Beim Anblick des Schlosses Affing (Landkreis Aichach-Friedberg) gehen die Gedanken vielleicht zurück zur alten Hofmark der Herren von „Affingin“ (11. Jahrhundert), vielleicht auch hin zur gegenwärtigen Herrschaft derer von Gravenreuth. Aber wer dächte dabei an den Russlandfeldzug von Kaiser Napoleon im Jahr 1812? Wer indes das Tagebuch des beteiligten Casimir von Gravenreuth (1786–1865) in seiner nun vorliegenden Edition kennt, der muss unweigerlich an diese Tragödie denken. Die großformatige, auch durch den mitbeteiligten Schlachtenmaler Albrecht Adam bebilderte Edition stützt sich auf das Familienarchiv Gravenreuth in Affing und den dortigen Privatbesitz von Marian Freiherr von Gravenreuth, der den Band herausgegeben hat. Wesentliche Hilfe leistete das Bayerische Hauptstaatsarchiv und das Bayerische Armeemuseum. Autorin ist Suzane von Seckendorff, die seit langem die napoleonische Zeit erforscht, so auch als Mitarbeiterin der Landesausstellung „Napoleon und Bayern“ 2015 in Ingolstadt.
Anlass dieser Ausstellung war die 200 Jahre zurückliegende Niederlage Napoleons bei Waterloo und seine Verbannung nach Sankt Helena. Dort starb er 1821, was zum jetzigen 200-Jahr-Gedenken einen weiteren Schub an Publikationen zeitigt. Schon über eine Million Bücher sollen über Napoleon geschrieben worden sein. Was ist dem noch hinzuzufügen? Zum Beispiel dieses Tagebuch des Casimir von Gravenreuth. Er war aktiver Teil des Russlandfeldzugs, für den Napoleon von den ihm angeschlossenen 16 Staaten des Rheinbundes je ein Truppenkontingent einforderte; von Bayern waren das schließlich 36.000 Mann, die als 19. und 20. Division dem VI. Korps der Grande Armée eingegliedert wurden.
Casimir von Gravenreuth diente in Napoleons Russlandfeldzug als Artilleriehauptmann
Casimir von Gravenreuth diente als Artilleriehauptmann in der 20. Division, sein älterer Bruder Franz von Gravenreuth als Major des Generalstabs in der 19. Division. Ein weiterer Bruder war der erstgeborene, als Diplomat, Minister und Verwalter hervorgetretene Karl Ernst von Gravenreuth (1771–1826), der 1816 die Hofmark Affing samt Schloss erwarb. Er wirkte entscheidend mit, dass Bayern sich nicht der Dritten Koalition von Großbritannien, Russland und Österreich gegen Frankreich anschloss, sondern 1805 an dessen Seite trat. Das sollte im Folgenden allerdings auch zum Desaster von 1812 führen.
Und es war wahrlich ein Desaster. Denn von den 600.000 Soldaten der Grande Armée kamen nur etwa 30.000 aus dem Feldzug gegen Russland zurück, vom bayerischen Kontingent der 36.000 nur etwa 6000. Den 30.000 Verstorbenen wurde 1833 der Obelisk auf dem Münchner Karolinenplatz gewidmet. Die meisten hatten ihr Leben nicht auf dem Schlachtfeld verloren, sondern durch Krankheit, Ungeziefer, Erschöpfung, Kälte – aber schon beim Vormarsch auch durch die Unbilden einer ungewöhnlichen Sommerhitze.
Noch gar nicht in Russland schrieb Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais als Befehlshaber des IV. Armeekorps an seine Frau, die miserable Versorgungslage „raubt mir den Schlaf“. Hingegen Napoleon seine angetraute Marie-Louise wissen ließ, er werde in drei Monaten wieder heimgekehrt sein. In drei Monaten war er aber erst am Ziel in Moskau. Und hier empfing ihn bekanntlich kein Zar zu Verhandlungen, sondern ein gewaltiger Großbrand. Er sah sich genötigt, am 19. Oktober 1812 abzuziehen – einem frühen Wintereinbruch mit 30 und mehr Minusgraden und der grauenhaften Flucht über die Beresina entgegen.
Napoleons Russlandfeldzug: Eine Maskerade des Elends aller Elende
Casimir von Gravenreuth, der mit den beiden bayerischen Divisionen im Weißrussischen nördlich von Minsk verblieben war, empfand die halb erfrorenen und verhungerten Rückzügler als eine „Maskerade des Elends aller Elende“. Als ob das Elend nicht schon im Sommer groß genug gewesen wäre, als von Durst und Diarrhoe geplagte Soldaten „wie die Mücken“ niederfielen und Gravenreuth weiter vermerkte: „der Todte ward eher beneidet als bedauert.“
Auch das Elend der Lazarettversorgung widerspiegelt sein Tagebuch. Das betrifft besonders seinen Bruder Franz, dem infolge einer Schussverletzung der linke Fuß unterhalb der Wade amputiert werden musste. „Alle Mittel blieben fruchtlos und am selben Tage [10. Sept. 1812] nach 10 Uhr starb der gute edle Franz in meinen Armen.“ Er war eines der vielen Opfer, die in den „Bayerngräbern von Polozk“ ihre letzte Ruhe fanden. „Von allen Schwerverwundeten und Amputierten weiß ich keinen, der an diesem Unglücksort genesen wäre“, notierte Casimir, der beide Schlachten von Polozk (August, Oktober 1812) mitbestritten hat. Am Ende sei das Sterben so groß gewesen, „dass die Soldaten selbst Leichen zu ihren Kopfkissen nahmen“.
Nicht nur der Winter hatte die Armee besiegt
Napoleon verließ seine Armee am 6. Dezember, um ins unruhige Paris zurückzukehren. Am 18. Dezember traf er dort ein – und mit ihm die Propaganda, dass nur der russische Winter die Grande Armée habe besiegen können. Tatsächlich aber kamen schon im sommerlichen Vormarsch bei der schlecht versorgten Truppe Zweifel auf. Gravenreuth: „Man schüttelte den Kopf und gedachte der Schlacht von Pultawa“, das heißt der Niederlage des Schwedenkönigs Karl XII. bei seinem Russlandfeldzug gegen Zar Peter den Großen anno 1709.
Casimir von Gravenreuth blieb einigermaßen heil und traf am 19. Februar „in unserer Garnison Augsburg“ ein. So schließt sein Tagebuch. Seine Militärzeit aber ging weiter. Er wurde Major bei den Husaren, 1825 (zusammen mit Bruder Karl Ernst) zum Grafen erhoben und noch nach seinem Abschied 1841 zum Generalleutnant à la Suite. Seinen Alterssitz nahm er in Regensburg. Hier starb er kinderlos am 22. Oktober 1865. Seine Beisetzung verfügte er nach Burglengenfeld in der Oberpfalz, dem Stammland seines Familienzweiges. Von hier hatte sich sein Vater Wilhelm Adam Ernst Freiherr von Gravenreuth 1758 in die Dienste von Ludwig XV. begeben. 1790 war er als königlich-französischer Oberst gestorben. Seine Witwe, die französische Adlige Marie Victoire de la Roue aus Stenay, emigrierte 1793 mit ihren acht Kindern aus der revolutionären Heimat nach Burglengenfeld, wo sie sechs Jahre später verschied. 1856 ließ Casimir, ihr Jüngster, auf dem dortigen Friedhof ein Familiengrab aufrichten. Es bewahrt auch seine sterbliche Hülle.
Suzane von Seckendorff: Mit Napoleon im Russlandfeldzug 1812. Chronik eines Desasters. Nach dem Tagebuch des Grafen Casimir von Gravenreuth. Allitera Verlag, 131 Seiten, 24,90 Euro.
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