„Vos helft ir nisht boyen dem templ fun frayhayt un mentshlekhn glik?“, hieß es vor etwa 100 Jahren in einem jiddischen Gedicht. Der jiddischen Sprache wohnt ein Zauber inne – sie kommt einem gänzlich fremd vor, bis man sie laut liest, und plötzlich erschließt sie sich: Warum helft ihr nicht, einen Tempel der Freiheit und des menschlichen Glücks aufzubauen?
Dem Jiddischen haftet aber auch tiefe Melancholie und Trauer an. „Mir senen do“, sagten zwar die aus Osteuropa stammenden Überlebenden des Holocaust, die als Displaced Persons nach 1945 in Lagern wie in Landsberg lebten. Ihre Zeitungen hießen „lager-caitung“, „undzer veg“ oder „forverts“. Sie waren ganz der Zukunft zugewandt, aber ihre Sprache erzählte auch von furchtbaren Verlusten, von Millionen Toten und von der Zerstörung der osteuropäisch-jüdischen Kultur.
Dieser jiddischen Sprache hat sich in den vergangenen Jahren ein groß angelegtes Forschungsprojekt gewidmet. Im Zentrum stand ein politisch-kulturelles Ereignis aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908, auf der das Jiddische als Nationalsprache der Juden deklariert wurde. Es gab eine Tagung über jüdische Nationalsprache, und es ist jetzt ein Forschungsbericht mit zahlreichen Beiträgen in Buchform herausgekommen („Zukunft der Sprache – Zukunft der Nation?“, herausgegeben von Carmen Reichert, Bettina Bannasch und Alfred Wildfeuer, De Gruyter Oldenburg Verlag). Beteiligt waren die Universitäten Augsburg, München, Plzen und Tscherniwzi (einst Czernowitz) sowie das Augsburger Bukowina-Institut und das Zentrum „Gedankendach“ in Tscherniwzi.
Koordiniert wurde das Vorhaben von Carmen Reichert, Literaturwissenschaftlerin und designierte Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg.
Jiddisch kann man heute im Grunde nur noch bei Konzerten von Klezmer-Bands hören. Dabei war das doch einmal eine weitverbreitete Sprache?
Carmen Reichert: Jiddisch war und ist eine Weltsprache – eine kleine Weltsprache, die zwar aus dem süddeutschen Sprachraum stammte, mit ihren Sprecherinnen und Sprechern aber ab dem 19. Jahrhundert in die ganze Welt gewandert ist. Heute wird sie in Israel gesprochen, in Nordamerika, in Südamerika und auch in Europa. Die größte jiddischsprachige Community Europas lebt in Antwerpen, aber auch in London können Sie auf der Straße Jiddisch hören. Freilich hat das Jiddische bei weitem nicht mehr die Sprecherzahlen, die es vor der Schoa hatte, und die säkulare jiddische Kultur ist mit dem blühenden kulturellen Leben Osteuropas im frühen 20. Jahrhundert, das im Zentrum unseres Projekts stand, nicht mehr vergleichbar. In Deutschland, dem Land, in dem die Sprache einst entstanden ist, taucht das Jiddische tatsächlich vor allem als Kultursprache auf, die von wenigen zu ganz speziellen Anlässen verwendet wird.
In der Ukraine war das Jiddische ja sogar mal eine der Staatssprachen. Und Czernowitz war ein Zentrum dieser Sprache und der jiddischen Literatur. War das nicht ein ganz besonderer kultureller Schatz?
Reichert: Das war es und das ist es. Nicht nur in Czernowitz, auch in Lviv (das in der Habsburger Zeit Lemberg hieß), in Kiew, in Charkiv und in vielen anderen Orten war Jiddisch eine Kultursprache, in der Romane geschrieben wurden, Lieder, Gedichte, Theaterstücke. Jiddisch wollte in dieser Zeit, wie der berühmte Dichter Yitzkhok Leybush Peretz es formulierte, eine Sprache sein wie alle. Czernowitz war vor der Konferenz dort übrigens nicht bekannt als jiddisches Kulturzentrum – da dachte man eher an Lviv, Krakau oder Warschau. Dass es diese enorme Bedeutung als Meilenstein in der jiddischen Sprachgeschichte gewonnen hat, haben wir Nathan Birnbaum zu verdanken – einem Wiener Juden, der mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen war und der als Erwachsener die Muttersprache seiner Eltern lernte.
Warum war das Ergebnis der Konferenz, Jiddisch als Nationalsprache der Juden zu erklären, so wichtig?
Reichert: Das Jiddische war lange Zeit das Stiefkind neben dem Hebräischen, es galt als Sprache der Frauen und Ungebildeten, während das Hebräische die hauptsächliche Publikations- und Kultursprache war. Die Emanzipation des Jiddischen, die auf der Czernowitzer Konferenz besonders deutlich wird, ist verbunden mit anderen großen Prozessen des 20. Jahrhunderts: die Emanzipation der Frauen und der Arbeiter, die Demokratisierung und die Politisierung größerer Bevölkerungsteile. Viele Zeitgenossen empfanden die Konferenz als große Unverschämtheit. Aber auch wenn die Konferenz ihre Ziele nur zum Teil erreichen konnte, war sie ein Erfolg: Es gelang ihr, von Czernowitz bis Paris und New York eine Debatte über das Jiddische und seine Rolle für die jüdische Geschichte und Gegenwart loszutreten.
Jüdisch und jiddisch – darum ranken sich ja verwirrende Definitionen. Handelt es sich um Religion, um Kultur, um Politik? Jemand, der jüdisch ist, spricht nicht automatisch jiddisch? Und jüdisch, ist das ein Glaube, ein Bekenntnis, oder ist es auch ein Volk, eine Nation?
Reichert: Die Verwirrung ist verständlich, denn es ist wirklich kompliziert: Jiddisch bedeutete ursprünglich nichts anderes als „jüdisch“. Die Umgangssprache, die die Jüdinnen und Juden Zentraleuropas ab dem Mittelalter sprachen, nannten sie selbst nicht Jiddisch, sondern „taytsh“, also Deutsch. Deshalb heißt „übersetzen“ auf Jiddisch bis heute „oystaytshn“: ausdeutschen. Heute sprechen die allerwenigsten Jüdinnen und Juden Jiddisch – man hört es noch viel in orthodoxen Kreisen und sehr vereinzelt in säkularen jüdischen Familien. Die Frage, ob Jüdischsein eine Volks- oder Religionszugehörigkeit sei, wird in Europa seit langem diskutiert. Es gibt darauf viele unterschiedliche Antworten. Für viele Teilnehmer der Sprachkonferenz war Jüdischsein eine nationale Kategorie – die allermeisten von ihnen waren in Russland oder in Österreich-Ungarn zu Hause, also in Vielvölkerstaaten, in denen sie sich als ein Volk oder eine Nation neben vielen anderen verstanden. Wenn Sie nun eine ultraorthodoxe Jüdin fragen, dann wird sie sich vermutlich sowohl dem jüdischen Glauben als auch einer jüdischen Volkszugehörigkeit zuordnen. Und wenn sie einen säkularen Israeli fragen, dann wird er vielleicht mit der Religion nichts zu tun haben wollen und seine Nationalität mit israelisch, nicht mit jüdisch bezeichnen. Trotzdem kann es gut sein, dass er sich in irgendeiner Weise mit anderen (nichtisraelischen) Jüdinnen und Juden im Sinne einer Volkszugehörigkeit verbunden fühlt.
Wurde das Jiddische als Nationalsprache wichtig für die Staatsbildung Israels?
Reichert: Das ist eine gute Frage. Auf der einen Seite war Jiddisch ein großes Problem für Israel, denn man wollte ja Hebräisch sprechen, in der Realität der Staatsgründungszeit sprachen aber die allermeisten Bürgerinnen und Bürger muttersprachlich Jiddisch und hatten Hebräisch entweder im Zuge ihrer religiösen Ausbildung oder in zionistischen Kulturgruppen gelernt. Deshalb war Jiddisch aus dem Alltag nicht wegzudenken, es war wohl die Hauptumgangssprache zumindest in der Anfangszeit.
Kann man heute noch Jiddisch und der jiddischen Kultur begegnen? Und wenn ja, wo?
Reichert: Klar kann man das! Chassidische, oder wie man auf Deutsch meist sagt, orthodoxe jüdische Gruppen sprechen Jiddisch weiter im Familienkreis und im Alltag. Dort hat das Jiddische im Grunde die Funktion beibehalten, die es in der jüdischen Geschichte hatte. In säkularen Kreisen hat die Sprache heute eine ganz andere und neue Bedeutung bekommen als Kultursprache, die heute an Universitäten gelehrt und auch von Nichtjüdinnen und Nichtjuden gelernt wird. Wenn Sie sich für das Jiddische interessieren und nicht gerade an einer Universität eingeschrieben sind, in der es gelehrt wird, können Sie übrigens an einem der zahlreichen Sommerkurse teilnehmen, zum Beispiel in Weimar, Paris, Vilnius, New York.