Wohin der Pfad durch die Ausstellung führt, das spürt man, wenn man vor dieser vertikalen, zwei Etagen hohen Wand steht: In die weiße Museumswand haben sie – scheinbar – Felssteine eingemauert. Griffig, grob kantig, wie gemacht für eine Kletterroute. Auf den zweiten Blick sieht man aber: Die Steine sind flach wie Fensterglas. Und über allen Klettergriffen, auf Höhe von Stockwerk zwei, öffnet sich auch ein Fenster in der Wand. Es ist ganz aus Acrylglas geschaffen, durchsichtig von Fensterladen bis Fensterbrett, und ein schneeweißer Vorhang weht aus den Flügeln hinaus. Wer wohnt da? Wer steigt so hoch? „Rettung naht“ heißt dieses Kunstwerk von Finja Sander, sie hat die Ecke im Holbeinhaus so eingerichtet. Der Kunstverein Augsburg zeigt aktuell Werke der jungen Künstlerin: Ihre Kunst arbeitet sich ab an Themen wie Leistung und Athletik, am Kult der Berge und an der Propaganda der Tugenden. Denn unter dem Gipfel? Klafft ein Abgrund der Geschichte.
Finja Sander zeigt ihre Werke im Kunstverein Augsburg
Sander hat ein paar Gedanken notiert, sie will den Besuchern erklären, worin für sie die Verbindung liegt zwischen Klettern und Kunst: „Ich, die Künstlerin, opfere mich für die eigene Idee auf, scheue keinerlei körperliche Anstrengung, um die eigenen Ideen zu realisieren.“ Kunst beginnt für Sander mit dem Körper. Ihrem eigenen. Früh schoss sie Selbstporträts in athletischen Posen, teilweise nackt, wie als Vorlage für eine griechische, antike Vase. Aber da fragten sie manche: diese Körperinszenierung, dieses athletische Ideal, ist das nicht vorbelastet? Ist das nicht die Ästhetik von ... Leni Riefenstahl?
Riefenstahl, Regisseurin im Dienst des Nazi-Regimes, Vertraute von Adolf Hitler. Sie schuf das rassistische Propagandabild eines vermeintlich idealen Athleten, eines vermeintlich rein germanischen, weißen „Herrenmenschen“ mit gestählten Muskeln und gestähltem Willen. Dieses Menschenbild glorifizierte sie im Nazifilm „Olympia“, es war ihr Werk zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin. Aber schon zuvor hatte sie in Bergsteigerfilmen den Körperkult, in der überhöhten Sehnsucht nach dem Gipfel in Bilder gefasst. Finja Sander schreibt über diese Faszination der Kraft, die Klettern und Kunst für sie verbindet: „Wenn ich so darüber nachdenke, ist auch diese innerliche Unbedingtheit gefährlich nah an dem Selbstverständnis Riefenstahls.“
Die junge Künstlerin, geboren 1996 in Hildesheim, schreibt über ihre „unfreiwilligen Verwandtschaft“ mit Riefenstahl. Und das wirkt entwaffnend, denn Sander formt aus der Selbsterkenntnis neue Ideen, indem sie die Propagandabilder der Überwältigung in nüchterne, kalte Formen übersetzt. Sie zerbricht diese Ästhetik.
Sander hat sich dafür in Texte vertieft, die sich am faschistischen Körperkult abarbeiten, kritische Analysen von Denkern wie Susan Sontag gelesen. Zwischen Bergfelsen und Muskelbergen bleibt in der Riefenstahl-Ästhetik kein Spalt Platz für Grautöne. Kein Raum für Leid, Scham und Ambivalenz. Und diesen Mangel spürt Sander auch in der Erinnerungskultur, beim Anblick vieler alter Denk- und Ehrenmale, die heute noch an die Weltkriege erinnern.
Mit Leni Riefenstahls Werk setzt sich Sander auseinander
„Auch mein Blick strebt unaufhaltsam nach oben“, schreibt Sander. Ein Video einer Performance läuft im Holbeinhaus: Finja Sander baumelt. Sie schwebt in einem Klettergeschirr an einer Kette, am langen Arm eines mächtigen Hebegeräts aus Metall. Sander schnaubt. Mit Fußtritten pumpt sie an einem Hebel, sodass sich der Arm im Millimetertempo anhebt, sie sich selbst immer höher hievt. Sander braucht eine Atempause.
Ehrenkränze aus Scherben liegen im Holbeinhaus
„Wie unterschieden sich meine künstlerischen Ansichten und ästhetischen Entscheidungen von denen einer Leni Riefenstahl?“, fragt Sander. Die Antwort liegt auch im Material, das sie nutzt: Kränze aus Scherben hat sie in der Ausstellung abgelegt. Sie erinnern an Kränze des Gedenkens, so wie man sie an Denk- und Mahnmalen, aus Nadelholzzweigen geflochten, niedergelegt. Aus hunderten Glasscherben baut Sander ihre eigenen Kränze, zerbrechlich, aber scharfkantig, völlig durchsichtig, doch gefährlich. Sie schultert diese Werke in ihren Performances, trägt die Last des Gedenkens. Im Kunstverein liegen die Kränze jetzt aber auf einer großen Waage. Wie viel wiegt Erinnerung? In den Plastikboxen, in denen die Scherbenkronen transportierten wurden, hat das Glas Schürfwunden eingeritzt – Sander hängt die Schachteln als Exponate an die Wand.
Wieder geht der Blick nach oben: Für eine andere Performance hing Sander reglos in den Seilen. Flach auf dem Bauch lag sie da – aber eben in der Luft, an Seilen schwebend, an einer Art Schaukelgerüst. So schloss sie die Augen und verharrte im Museumsraum. Eine Stunde lang. 60 Minuten, in denen Besucher sie betrachten konnten. Manche wurden wütend, andere staunten, warum regt sich hier nichts? Wieder verbindet Sander hier den Körper mit Erinnerung: Vorbild für diese Aktion war „Der Schwebende“ im Dom von Güstrow. 1927 schuf Ernst Barlach diese Bronzeskulptur, als Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. So wie Sander schwebte die Figur in der Luft. Still und friedlich, mit dem Gesicht von Käthe Kollwitz – aber doch wie ein Torpedo im Flug. 1937 erklärten die Nazis die Skulptur zu „entarteten Kunst“, 1941 schmolzen sie das Original ein.
Sanders Ziel? „Das in Stein gemeißelte Denkmal in eine neue Form zu übersetzen.“ Mit Herzschlag und Haut. Die Performance zeigte sie schon an Gedenkstätten, auf einem Truppenübungsplatz, im Berliner Olympiastadion. Fotos im Kunstverein zeigen Detailaufnahmen davon. Ellenbogen, Füße, Gurte – was stammt von der Bronze, was von Sanders Kunstaktion? Wo endet das Denkmal, wo beginnt die Imitation? Sie will Ideen provozieren, für eine neue Zukunft der Erinnerung. „Für Morgen“ heißt die Aktion.
Finja Sanders Kunst sperrt sich gegen jede vorschnelle, mit Ungeduld zusammengestöpselte Interpretation. „Das ist eine Art von Kunst, auf die man sich erst einmal einlassen muss“ – sagt sie selbst. Die Materialien ziehen den Blick an: das Glas der Kränze. Luftpolsterfolien an der Wand. Die Steinfassade dreier Stelen. Aber kein Stoff scheint dem Auge Halt zu geben, kaum mehr als einen Tipp, worum es hier geht. Es ist eine Kunst, die nicht nur erklärt, sondern diskutiert werden will – und die Künstlerin scheint bereit für das Gespräch.
Info: „In einem Land vor unserer Zeit“, bis 15. September im Kunstverein Augsburg im Holbeinhaus.
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