Die Tour geht durch fast ganz Schwaben: erst Ichenhausen, Buttenwiesen und Hürben. In der Woche darauf dann Hainsfarth und Memmingen. Und dann weiter nach Donauwörth, Harburg, Wallerstein und und und. Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Ingvild Richardsen beackert seit letztem Jahr ein weites Feld bei ihrer Arbeit zur Digitalisierung des materiellen jüdischen Erbes Bayerisch-Schwabens. Alle kleinen Orte mit früheren jüdischen Gemeinden müssen da besucht werden. Ihre Arbeit soll anderen den Weg ersparen und die vielen Zeugnisse jüdischen Lebens in Schwaben in Zukunft aller Welt digital zugänglich machen.
Bayerische Kultur in den ländlichen Regionen? Wer da nur an Trachten und Volksfeste denkt, denkt eindeutig zu kurz. Gerade Bayerisch-Schwaben – im Gegensatz etwa zu Oberbayern – war jahrhundertelang geprägt vom Miteinander der christlichen und jüdischen Bevölkerung. Das ist sogar heute noch zu finden, wenn auch manchmal nur mit etwas Mühe, denn der Verfolgungswahn der NS-Zeit hatte die Erinnerungen an die Verfolgten und Ermordeten gründlich ausgelöscht.
"Ein Herzensprojekt", für das viele in der Region zusammenfinden
Professor Klaus Wolf hatte vor drei Jahren das Projekt in Kooperation mit dem Jüdischen Kulturmuseum Augsburg in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsbibliothek initiiert. Der Germanist an der Uni Augsburg ist Vorsitzender der Synagogenstiftung Ichenhausen sowie der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft Augsburg-Schwaben“. Die Erfassung des jüdischen Erbes auf dem Land aber ist ihm ein „Herzensprojekt“, wie er betont. „Wir machen die jüdische Vergangenheit sichtbar“, erklärt er begeistert, indem sie für alle auf dem bayerischen Internetportal „bavarikon“ in deutsch und englisch präsentiert wird. Damit kann Forschung an Quellen und Objekten unabhängig vom Ort betrieben werden. Aber auch jüdische Nachkommen in den USA oder Israel haben die Möglichkeit, sich übers Internet anzusehen, wo und wie ihre Vorfahren gelebt hatten.
Richardsens Aufgabe führt sie in den schwäbischen Orten direkt zu den „Experten vor Ort“, wie sie es nennt. Das sind ganz unterschiedliche Menschen wie Karin Beh, die die Synagoge in Ichenhausen betreut, Museumsleiterinnen wie Anita Roth in Hürben oder Archivare wie Dr. Johannes Mordstein in Buttenwiesen. Sie alle haben über viele Jahre die Schätze und Informationen gesammelt, die noch an die jüdische Kultur und ihren Alltag erinnern. Ihnen ist auch zu verdanken, dass Geschichten die Erinnerung lebendig halten wie bei dem Einwecktopf, den eine jüdische Familie in Buttenwiesen den Nachbarn zusammen mit einer Hartwurst gebracht hatte, bevor sie deportiert wurde. Die Nachbarn sollten sie aufbewahren, bis sie wiederkämen.
Ichenhausen wieder wie in den Erfolgsromanen von Rafael Seligmann
Oft erinnert in den Orten nur wenig an die jüdische Vergangenheit, auch wenn vor 200 Jahren bis zu 50 Prozent der Bevölkerung in einigen Dörfern jüdisch war. Das lag an der Bevölkerungspolitik in der Markgrafschaft Burgau, zu der weite Teile Schwabens gehörten, oder im Herrschaftsgebiet Oettingen-Wallerstein im Ries, wo man sich von der Niederlassung von Juden wirtschaftliche Entwicklung versprach – und nicht zuletzt bedeutende Steuereinnahmen.
In Ichenhausen wurde die 1781 erbaute klassizistische Synagoge schon in den 1980er Jahren restauriert, sodass heute wieder die Decke im Himmelsblau mit goldenen Sternen zu bewundern ist – genau- so wie Rafael Seligmann, dessen Familie aus Ichenhausen stammte, in seiner erfolgreichen Roman-Trilogie schreibt („Lauf Ludwig, lauf!“, 2019, „Hannah und Ludwig“, 2020 und „Rafi, Judenbub“, 2022). Dabei wurde auch ein Schatz in der Genisa gefunden, dem Hohlraum über der Synagoge, in dem liturgische Objekte „begraben“ wurden. 90 bestickte Thora-Wimpel sind nun für das Projekt „Das jüdische Erbe Bayerisch-Schwabens. Kultur und Alltag des Landjudentums von 1560 – 1945“ fotografiert worden.
Richardsens Blick richtet sich auch darauf, für jeden Ort besondere „Glanzlichter“ zu finden, die den Ort beim schnellen Überblick repräsentieren. Sie wird auch Kurzbiografien schreiben und Belegen zum Frauenalltag nachgehen, z. B. in Briefen und Archivalien. Und nicht zuletzt soll auf der bavarikon-Seite dargestellt werden, wie jüdische Unternehmerfamilien wie die Landauers aus Hürben (später in Augsburg) die Region geprägt hatten. Denn gerade im Textilgewerbe hatten sie hier große Bedeutung.
Dass es Zeiten engen harmonischen Zusammenlebens in Schwaben gab, zeigt das einmalige Gebäudeensemble in Buttenwiesen, wo Synagoge, Mikwe (das jüdische Ritualbad) und jüdischer Friedhof im Ortszentrum nicht weit von der Kirche beieinanderliegen. Auch hier wird vom 13. bis 17. November die „Zweite Jüdische Kulturwoche“ in Bayerisch-Schwaben mit zahlreichen Vorträgen, Konzerten und Ausstellungen stattfinden. Allerdings ganz analog, dafür mit vielen Anregungen, sich mit dem wertvollen jüdischen Erbe zu beschäftigen, bevor es dann digital erlebbar wird.