Manchmal schienen in den letzten Monaten die Debatten durchzudrehen: Der Terroranschlag der Hamas und der anschließende Gaza-Krieg schlugen tiefe Gräben in die deutschen Talkshowrunden, Filmfestivals und Universitäten. Aus- und Einladungen von Wissenschaftlern und Künstlerinnen, Offene Briefe von Universitätsangehörigen an ihre Arbeitgeber, gecancelte Konferenzen und Vortragende – vor allem beim Thema Nahostkonflikt und Antisemitismus gibt es unsichtbare, aber rigide Diskursgrenzen und bisweilen unklar definierte Beschränkungen von Meinungsäußerung auf öffentlichen Bühnen oder in Universitäten.
Tagung an der Universität Augsburg beschäftigt sich mit den Grenzen des Sagbaren
Historisch ist es nicht neu, dass Gesellschaften das Sagbare festzurren und zu ihrem Schutz Abweichungen sanktionieren. Am Rand der Augsburger Tagung „Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit“ erklärt Gastgeber Reiner Keller, Professor für Soziologie der Universität Augsburg, wie solche Diskursgrenzen immer wieder neu ausgehandelt, ausgeweitet oder verengt werden. Er erinnert an die bis heute nachwirkenden Verwerfungen während der Corona-Pandemie. „Damals hatten wir eine erhebliche, in beinahe alle Lebensbereiche eingreifende Staatsgewalt, doch es war häufig nicht möglich, dies etwas differenzierter zu betrachten.“ Insgesamt sei rational und wissensbasiert diskutiert und entschieden worden, so der Experte. Auch die Gegenbewegung der „Corona- und Impf-Skeptiker“ habe zum Teil bedenkenswerte, aus eigenen Erfahrungen hergeleitete Argumente gehabt. „Das muss man ernst nehmen.“
Eskaliert aber sei die Situation, als die Demonstranten von politischen Einzelpersonen und Spektren instrumentalisiert wurden. Der Algorithmus in den Sozialen Medien tat sein Übriges, Stereotypen und Schwarz-Weiß-Denken nahmen überhand. „Diese Zuspitzungen müssten vermieden werden. Ein kaum vermittelbares Parkbank-Sitzverbot setzt dann die Spirale auf staatlicher Ebene fort. Vielleicht war das auch Hilflosigkeit. Jedenfalls nutzte es der Polarisierung auf der Straße.“ Diese Prozesse zu analysieren und die Ergebnisse zu kommunizieren, bedeute nicht, Maulkörbe zu verhängen. Die Aggressivität der Vorwürfe, so der Soziologe, müsse abgemildert werden. „Man darf alles sagen. Aber man muss argumentieren, begründen und Widerspruch aushalten.“
Prof. Reiner Keller untersucht, wie gesellschaftliche Debatten geführt werden
Keller gilt als der Erfinder der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, einer Forschungsperspektive, die inzwischen auch im englischsprachigen Raum an Beachtung gewinnt.

Ihn sowie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Universität Augsburg interessiert dabei, wie gesellschaftliche Debatten über Realitäten geführt werden und wie sie in aufeinander bezogenen Handlungen dann auch gesellschaftliche Wirklichkeiten herstellen. „Solche Diskurse frei zu legen, kann in allen möglichen Bereichen hilfreich sein, in denen der Gegenstand nicht immer so eindeutig ‚sichtbar‘ ist: Beim Diskurs über Lage und Situation der Migration in Deutschland, über die notwendigen Maßnahmen zur Ankurbelung von Wirtschaftswachstum, den Umgang mit Klimawandel, die Lehren aus dem Umgang mit der Pandemie.“
In den letzten Monaten war es insbesondere die Sicht auf den Nahost-Konflikt, die Emotionen, Entrüstung und Empathie herausforderte. Universitäre oder künstlerische Veranstaltungen wie die Berlinale stehen im Feuer, sobald es um das „Sagbare“ geht. Darf man das militärische Vorgehen Israels kritisieren, ohne im gleichen Atemzug den Auslöser des Krieges, den Terror der Hamas, zu thematisieren? Erst im Februar cancelte die Ludwig-Maximilians-Universität einen Vortrag von Francesca Albanese, der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die von Israel besetzten Gebiete. Die Juristin hätte über „Kolonialismus, Menschenrechte und Internationales Recht“ vortragen sollen. Die Uni begründete die Absage mit der „allgemeinpolitischen Ausrichtung“ des Vortrags sowie mit Sicherheitsbedenken wegen eines zu erwartenden „Meinungskampfes“. Albanese trug kurz darauf auf der Münchener Sicherheitskonferenz vor.
Prof. Reiner Keller: „Wir sollten Streit üben und zulassen§
Keller möchte die staatlichen Interventionen gegen so manche Veranstaltung, der Antisemitismus vorgeworfen wird, nicht direkt kommentieren. Aber er hat ein Buch in Arbeit: „Diskurssoziologie der Kritik. Zur Untersuchung von Sagbarkeiten und Zeigbarkeiten“. Es soll in diesem Jahr erscheinen. Sein Team vom Augsburger Soziologie-Lehrstuhl wird sich mit Kunstautonomie, behaupteter Cancel Culture und mit einer Schweizer Hilfsorganisation beschäftigen, die sich wegen ihrer Werbung mit Rassismus-Vorwürfen konfrontiert sah, einen Entrüstungssturm auslöste – und meisterte. Keller findet: „Verletzungen sind Verletzungen, das ist unbedingt anzuerkennen. Aber wir sollten auch den Streit üben, ihn zulassen – wenn nicht in den Universitäten, wo dann?“
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