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Brechtfestival: Wenn Bertolt Brecht ein Fitnessstudio betreiben würde

Brechtfestival

Wenn Bertolt Brecht ein Fitnessstudio betreiben würde

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    Ein leerstehendes Möbelhaus ist die Kulisse von "Brechts Kraftclub". Hier boxen Athleten aus "Biris Boxing Gym" aus Lechhausen.
    Ein leerstehendes Möbelhaus ist die Kulisse von "Brechts Kraftclub". Hier boxen Athleten aus "Biris Boxing Gym" aus Lechhausen. Foto: Mercan Fröhlich

    Eine Yogagruppe macht das Krieger-Asana auf dem Parkplatz des ehemaligen Lederle-Areals. Auf dem Vordach über dem Eingang zum Möbelhaus steht Philosophin Eva von Redecker und spricht in ein silbern glitzerndes Mikrofon. "Ab jetzt kann die Revolution nur noch auf Muskelkraft und unsere Fantasie zählen", sagt sie. Neben ihr Damian Rebgetz, in Abendkleid mit Fell-Stola und leuchtend grüner Perücke. Wie schon am Freitag auf der Premiere von Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" im Staatstheater moderierte der Musiker und Schauspieler die Eröffnung des Kraftklubs und trägt dabei die erfrischende Absurdität dieses Mammutprojekts vor sich her. Der Leerstand vor den Toren von Oberhausen ist nach einem fulminanten Auftakt für kurze Zeit der wohl lebendigste Ort in Augsburg.

    Drei Meter unter von Redecker schlüpfen Festivalleiter Julian Warner und der Boxer Birkan "Biri" Eksen in den brutalistischen Bau. Es riecht nach Popcorn, die Tanzgruppe des Assyrischen Mesopotamien Vereins folgt auf drei Alphornbläser aus Waltenhofen. Vereine aus der Region stellen sich vor, "Turnfest" nennt Warner den Eröffnungsakt. Syrische Musikerinnen und Musiker, der Augsburger Rugby-Verein, eine Musikgruppe der Alevitischen Gemeinde, Cheerleader, die Voltigierabteilung des Augsburger Pferdesportvereins. Zwischendurch rollen vier Männer in Overalls und Tarnkleidung eine überdimensionierte goldene Kugel von der Ladefläche eines rauchenden Pick-ups unter vollem Körpereinsatz in das Gebäude.

    Auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Möbelhaus Lederle trifft Moderator Damian Rebgetz (links) Dasings letzten Winnetou-Darsteller Matthias Mühlbauer.
    Auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Möbelhaus Lederle trifft Moderator Damian Rebgetz (links) Dasings letzten Winnetou-Darsteller Matthias Mühlbauer. Foto: Mercan Fröhlich

    Viele Kulturen, viel Energie: Das Brechtfestival feiert Augsburg-Oberhausen

    Während der Darbietung des Jiu-Jitsu-Karate-Vereins sagt Snewit Aujezdsky, die Pfarrerin der evangelischen Gemeinde in Oberhausen: "Ich hab's mit dem Sport ja nicht so." Jene Aujezdsky inspirierte Warners zum Kraftklub, sagte er wenige Tage vor dem Festivalstart gegenüber unserer Redaktion. Wie in "ihrem Viertel" Oberhausen treffen in "Brechts Kraftklub" viele Kulturen aufeinander, sagt Aujezdsky. Die Energie der Karatekas habe sich auf sie übertragen: "Tief in mir drin habe ich vielleicht einen eigenen Kraftklub."

    Wie in einem Fiebertraum reitet plötzlich Matthias Mühlbauer, der letzte Winnetou aus der ehemaligen Western-City in Dasing, in voller Montur auf einem Pferd vom Senkelbach her über den Parkplatz. "Winnetou! Uns fehlt die Fantasie!", ruft Damian Rebgetz höchsteuphorisiert vom Dach der ehemaligen Textilfabrik herab. In Brechts Tradition ist hier womöglich das Konstruierte sichtbar gemacht. Aber bevor die Zuschauerinnen und Zuschauer zu lange über den Sinn hinter dem kostümierten Mann auf dem Pferd nachdenken können, macht sich die ungleiche Truppe aus Sportlerinnen, Künstlern und Festivalbesuchern auf den Weg ins Innere des Gebäudes.

    Mitmachtrainings, Workshops, Gesprächsrunden: Der kollektive Gedanke ist sehr präsent

    Drinnen trennen schwarze Vorhänge verschiedene Bereiche ab. Tanzteppiche sind da, ein Boxring, eine Bar, ein Bereich mit Fitnessgeräten, im ersten Stockwerk eine Rollschuhbahn und Tischtennisplatten. Alles findet gleichzeitig statt. Nicht nur gleichzeitig, sondern gemeinsam. Birkan Eksen ist mit zwei Dutzend Athletinnen und Athleten aus "Biris Boxing Gym" gekommen. Selbstbewusst nehmen sie den Raum ein, auf Eksens scharfes Kommando boxen rund 40 Fäuste in die Luft. Für Brecht war Boxen ein Bild für das moderne Leben, den ewigen Überlebenskampf, die Abwesenheit von Moral. Für Boxer Eksen war "Brecht eine Sportskanone." 

    Etwas abseits auf der Boxfläche ziehen sich drei Frauen zum ersten Mal in ihrem Leben Boxhandschuhe an. Sie haben sich im Vorfeld zu einem Schnupperkurs angemeldet. In Mitmachtrainings und Workshops können Interessierte an "Brechts Kraftklub" teilnehmen. Zeitgleich hält Festivalleiter Warner seine Eröffnungsrede im Treppenhaus des ehemaligen Möbelgeschäfts - in einer Ecke, die mit grünem Kunstrasen ausgelegt ist und die Warner Social-Dreaming-Bereich nennt. Über die Zeit des Brechtfestivals werden hier Gruppenanalysen und psychoanalytische Therapie angeboten.

    "Die 54er" und Philosophin Eva von Redecker: Hier treffen Welten aufeinander

    Dann wird das Licht gedimmt, durch ein Rolltor fährt ein blauer Sportwagen in den Kraftklub. Nebel und Lichteffekte, plötzlich stürmen Fans mit hochgereckten Smartphones und Tänzerinnen die Fläche. Drei Rapper der Oberhausener 54er-Gang steigen unter Jubel aus dem Wagen. Als Teil der Performance verteilen junge Frauen in Streetstyle gekleidet falsche Scheine ("Du fragst, was ich will? - Geld ist, was ich will") auf der Tanzfläche und T-Shirts unter dem begeisterten Publikum. Studierende der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe haben unter dem Label "JJ x H54D" eine Modekollektion entworfen. Die Studierenden stecken auch hinter einer Oberhausener Limonadenmarke ("Legga"), die an der Bar des Kraftklubs ausgeschenkt wird, und hinter der Installation der goldenen Kugel, die als mobile Zeitkapsel für die Geschichten und Legenden der Menschen in Oberhausen (Titel der dazugehörigen Ausstellung: "Urban Legends of Oberhausen") steht.

    Im ehemaligen Möbelhaus Lederle eröffnet das Brechtfestival 2024 mit einem Turnfest seinen Kraftklub. Links Damian Rebgetz, rechts Dasings letzter Winnetou Matthias Mühlbauer.
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    Für das Brechtfestival 2024 gibt es eine Zentrale, das ehemalige Möbelhaus Lederle. Impressionen vom Turnfest und von den Räumen.

    "Brecht machte Theater für die Arbeiterklasse. Er hatte immer eine klare Vorstellung davon, wen es zu ermächtigen galt", sagt die Philosophin von Redecker. Heutzutage seien sozial Benachteiligte schwieriger zu erreichen, weil sie nicht wie zu Brechts Zeiten in Fabriken arbeiteten, sondern vermehrt vereinzelt. Es gebe aber einen anderen Ort, an dem man sie erreichen kann, sagt sie: in Vereinen und im Besonderen über den Vereinssport. "No Future" ist das Motto dieses Brechtfestivals. Wenn sie gemeinsam genutzt werde, könne Zukunftslosigkeit - sogar Wut und Verzweiflung - hoffnungsvoll sein, sagt von Redecker. Und überhaupt: "Eine einzige Zukunft ist gruselig", sagt die Philosophin. "Wenn ich die Wahl habe, dann: keine Zukunft oder viele - so wie hier."

    Brechts Kraftklub findet bis 3. März in der Langenmantelstraße 10 (gegenüber Plärrer) statt. Unter der Woche ist er von 17 Uhr bis 22 Uhr geöffnet, am Wochenende von 12 Uhr bis 22 Uhr. Der Tagespass kostet 5 Euro.

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