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Brechtfestival: "Der Kaukasische Kreidekreis" in Augsburg: Theater Hora beim Brechtfestival

Brechtfestival

"Der Kaukasische Kreidekreis" in Augsburg: Theater Hora beim Brechtfestival

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    Bert Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" wird beim Augsburger Brechtfestival von den kognitiv beeinträchtigten Spielerinnen und Spielern des Schweizer Theater Hora auf die Bühne gebracht.
    Bert Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" wird beim Augsburger Brechtfestival von den kognitiv beeinträchtigten Spielerinnen und Spielern des Schweizer Theater Hora auf die Bühne gebracht. Foto: Monika Rittershaus

    Wir erinnern uns: Mit einer Probe will ein Richter herausfinden, welche Mutter die bessere für das Kind ist. Die leibliche, die das Kind hergegeben hat, weil ihr anderes wichtiger war, nun aber Ansprüche auf es anmeldet, oder die Magd Grusche, die das Kind zu sich genommen hat und sich auch unter schweren Bedingungen darum kümmerte. Er zeichnet aus Kreide einen Kreis, stellt das Kind in die Mitte und nun sollen die beiden Frauen versuchen, es jeweils auf ihre Seite zu ziehen. Das Urteil fällt eindeutig aus: Der Grusche wird das Kind zugesprochen, weil sie diese Zerreißprobe aus Rücksicht auf das Kind nicht mitmacht. Also, so der Richter, ist sie die bessere Mutter, weil sie sein Wohlergehen mehr im Auge hat. "Der Kaukasische Kreidekreis", nach einer chinesischen Vorlage von Bert Brecht adaptiert und 1948 uraufgeführt, ist eines der bekanntesten Theaterstücke des Augsburger Dichters. Doch so, wie man es nun beim Augsburger Brechtfestival zu sehen bekommt, hat man es bisher nicht erlebt – es sei denn, man zählte im vergangenen Jahr zu den Besuchern der Salzburger Festspiele.

    Das Theater Hora spielt "Der kaukasische Kreidekreis" in Augsburg

    Dort nämlich hatte die außergewöhnliche Inszenierung von Regisseurin Helgard Haug mit dem Schweizer Theater Hora ihre Premiere. Haug ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe Rimini Protokoll, einem Theaterkollektiv, das traditionelles Theater und seine Sichtweisen hinterfragt und mit "Experten des Alltags" eine spezielle Form des Dokumentartheaters auf die Bühne bringt. Ebendies ist auch beim Theater Hora der Fall: Vor gut 30 Jahren in Zürich gegründet, besteht es zum größten Teil aus unterschiedlich stark kognitiv beeinträchtigten Ensemblemitgliedern, in der Mehrzahl mit Down-Syndrom. Das Schweizer Ensemble wurde jedoch nicht als beschäftigungstherapeutisches Programm aufgestellt, sondern von Beginn an stand dahinter die Idee eines inklusiven Theaters, das professionell arbeitet und mit seinen besonderen Gegebenheiten eigene künstlerische Positionen entwickelt. Das untermauert auch die Schauspielschule, die dem Theater seit 2009 angegliedert ist. Als inklusives Ensemble sind die Horas, wie sie auch genannt werden, nicht nur Pioniere, sondern auch Treibkraft der Bemühung um mehr Diversität auf deutschsprachigen Bühnen. Sie kooperieren mit renommierten Theaterhäusern wie den Münchner Kammerspielen und arbeiten mit namhaften Regisseuren wie Milo Rau, Nicolas Steman oder eben mit Helgard Haug zusammen. Weltweit sind sie auf Tourneen. Zahlreiche Auszeichnungen gab es außerdem, unter anderem wurden sie auch mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Hora-Darstellerin Julia Häusermann erhielt in Berlin 2013 den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

    Ungewohnte Blickwinkel und neue Fragestellungen erwarten die Zuschauer bei den Aufführungen des „Kaukasischen Kreidekreises“ anlässlich des Brechtfestivals genauso wie spezielle Darstellungsformen. Denn die Textarbeit steht bei dieser Aufführung nicht im Vordergrund. Mit In-Ear-Kopfhörern, durch die sie die in einfacher Sprache formulierten Sätze vorgesagt bekommen, werden die Spielenden unterstützt. 

    "Der kaukasische Kreidekreis": "Was, wenn das Kind entscheiden könnte?

    Die Probe im Kreidekreis und die Entscheidung für die Magd Grusche ist in Haugs Inszenierung nicht End- sondern Ausgangspunkt. Insgesamt achtmal wird die Prüfung durchexerziert, später auch ohne Kreidekreis und immer unter einem anderen Aspekt: Was, wenn das Kind selbst entscheiden dürfte? Sind Liebe und Zeit wirklich wichtiger für ein Kind als Wohlstand? Oder könnte nicht auch der Richter die Rolle der guten Mutter ausfüllen? Oder der Soldat Simon, Grusches Verlobter? Und was ist das überhaupt, eine gute Mutter? Am Schluss stehen die schwierigsten Fragen: Hätte sich die Grusche des Kindes auch angenommen, wenn es nicht so "propper und süß "gewesen wäre? Hätte es die Mutter überhaupt geboren?

    Aus Brechts Lehrstück wird in Helgard Haugs Inszenierung also ein Experiment, das ganz im Brecht´schen Sinne, den Zuschauer mit offenen Fragen zurücklässt. Und die Spielerinnen und Spieler in ihrer Persönlichkeit einbezieht. Die persönliche Verbindung zu ihrer Rolle – "ich führe auch im normalen Leben gern", sagt Tiziane Pagliaro als Fürstin – ist genauso Gegenstand der Aufführung wie ein schmales Büchlein, in dem das Publikum in Selbstzeugnissen und Fotografien die Kindheitsgeschichte von Remo Beuggert (Richter und Moderator), Robin Gilly (Kind), Tiziana Pagliaro (Fürstin), Simone Geisler (Grusche),Simon Stuber (Soldat Simon) und Musikerin Minhye Ko erfahren kann. Dass die Horas Brecht dabei auf Schwitzerdytsch zu Leibe rücken, ist dabei eine besonders charmante Variante des Verfemdungseffekts.

    Die beiden Vorstellungen von "Der kaukasische Kreidekreis" am 2. und 3. März auf der Brechtbühne im Gaswerk sind ausverkauft. Regisseurin Helgard Haug liest am Sonntag, 3. März, um 11.30 Uhr in der Brechtbühne aus ihrem Roman "All Right. Good Night." Darin schreibt sie über das Verschwinden des Flugzeuges MH370 mit 239 Personen an Bord und die Demenz ihres Vaters und zieht eine Verbindung zwischen persönlichem Verlust und dem Leiden anderer Menschen.

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