Achtung Triggerwarnung: Gleich wird es explizit. Ob er das jetzt wirklich vorlesen soll, fragt Franz Dobler und blickt skeptisch ins Publikum. „Ich wollte mit einer anderen Stelle beginnen, aber na gut ...“, sagt er, schlägt das Buch auf, liest und lässt das Wort Motherfucker fünf Mal fallen, bevor er auch nur eine Seite umgeblättert hat. Steiler Einstieg in einen Roman, der vom Dasein als Adoptivkind erzählt, von mütterlichen Schuldgefühlen und von der Suche nach der eigenen Identität.
Autor Franz Dobler teilt eindrückliche und persönliche Momente
Steiler Einstieg auch in den AZ-Literaturabend, bei dem Dobler über seinen neuen Roman „Ein Sohn von zwei Müttern“ spricht. Scheint, als gebe es einige Gemeinsamkeiten zwischen Autor und Erzähler, bemerkt Birgit Müller-Bardorff, Kulturredakteurin der Augsburger Allgemeinen, im Bühnengespräch mit dem Autor.
Statt auf den fiktiven Erzähler zu verweisen und sich vom Geschriebenen zu distanzieren, gibt sich Dobler offen. „Der Roman basiert nicht in allen, aber in vielen Punkten auf meinen Erfahrungen“, sagt er. „Von meiner Adoption habe ich erfahren, als ich noch zu klein war, um zu verstehen, was das überhaupt bedeutet.“ Und dann liest er die Szene vor, wie der sechsjährige Erzähler in der Badewanne sitzt und kräht, dass er ein Adoptivkind sei. Wie die Nachbarkinder ihm gesagt hätten, er sei anders, weil er nicht aus dem Bauch der Mutter gekommen ist. Und wie seine Eltern erschrecken und nicht wissen, was sie sagen sollen.
Eindrückliche Momente, die Dobler beim Literaturabend in der Augsburger Stadtbücherei teilt. Warum er dieses doch sehr persönliche Buch jetzt geschrieben hat, will Müller-Bardorff wissen. „Ich habe das lange vor mir hergeschoben, denn eigentlich langweilt mich der Gedanke, im eigenen Leben herumzuforschen“, sagt Dobler. Trotzdem habe er immer wieder darüber nachgedacht und einen Berg an Notizen gesammelt. „Aber auch das fand ich bescheuert, ich wollte das Thema endlich aus dem Weg räumen.“ Erst wusste er nicht, wie er es angehen sollte, also recherchierte er erst mal, was sich in der Literatur zum Thema Adoption findet, was Forschende und Betroffene sagen. „Diese Außenperspektive fand ich interessant“, sagt Dobler. „Sie war ein guter Motor bei der Arbeit und hat dazu beigetragen, dass ich meinen eigenen Blickwinkel immer wieder reflektiere und hinterfrage.“
Die Liebe zum Lesen entwickelte Dobler mit den ersten Büchern
Dobler hinterfragt im Buch nicht nur das eigene Erlebte, sondern auch gängige Narrative über Adoption. Das Thema sei gesellschaftlich stark negativ behaftet. Mütter, die ihr Kind zur Adoption freigeben, litten an Schuldgefühlen, auch seine eigene Mutter habe es sich nie verziehen. Dabei sei die Entscheidung immer mit sozialen Notlagen verbunden, von denen meist Frauen betroffen sind. „Wenn ich bei meiner Mutter aufgewachsen wäre, wären wir vielleicht im Graben gelandet“, sagt Dobler. „Ich habe keinen Grund, wütend auf sie zu sein, und ich bin auch nicht traumatisiert.“ Für manche Betroffene sei es sicher eine Belastung, aber man könne eine Adoption auch als positives soziales Abkommen sehen. Mit seinem Buch habe er auch eine neue Perspektive eröffnen wollen.
Dobler ist im erzkatholischen Bayern aufgewachsen, auch davon erzählt sein Buch. Die Liebe zum Lesen entwickelte er mit den ersten Büchern. „Ich wurde reingezogen, es war wie eine Droge“, erinnert er sich. Und mit den Büchern kam die Liebe zum Schreiben. „Ich wollte nachmachen, was ich da las“, sagt Dobler. Inzwischen hat der 65-Jährige, der seit vielen Jahren in Augsburg lebt, einige Romane, Krimis und Gedichte veröffentlicht. Als Musikliebhaber und Experte für Country-Musik hat er sich mit einer Biografie über Johnny Cash einen Namen gemacht. Der literarische Durchbruch gelang ihm mit dem Krimi „Ein Bulle im Zug“, für den er den Deutschen Krimipreis erhielt. Mit „Ein Sohn von zwei Müttern“ hat er sein persönlichstes Werk vorgelegt, wie im Gespräch mit Müller-Bardorff deutlich wird.
Beim Literarischen Salon wird über Neuerscheinungen des Frühjahrs debattiert
Zum Abschluss des Abends debattiert der Literarische Salon über die Neuerscheinungen des Frühjahrs. Mit dabei: AZ-Kulturredakteurin Veronika Lintner, Kurt Idrizovic von der Augsburger Buchhandlung am Obstmarkt, Buch-Blogger Marius Müller und Stefanie Wirsching, Co-Leiterin der AZ-Redaktion Kultur und Journal und Moderatorin des Abends. Den ersten Roman stellt Müller vor. „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ von der südkpreanischen Autorin Cho Nam-Joo sei ein lesenswerter "Roman des Scheiters" über ein Mädchen, das in ärmlichen Verhältnissen in Seoul aufwächst und dessen Träume nach und nach platzen. Lintner und Idrizovic lässt das Buch eher unbeeindruckt zurück. „Beim Lesen war ich dabei, aber im Nachhinein bedeutet es mir nichts“, resümiert Idrizovic. Schon witzig, aber leise im Ton, lautet Lintners Urteil.
Bei ihrer Empfehlung sind sich hingegen alle einige: Mit „Zuleika“ ist der britischen Autorin Bernardine Evaristo ein fulminantes Versepos über ein zwangsverheiratetes Mädchen gelungen, das sich im London der Römerzeit einen Namen als Dichterin machen will. Humorvoll, unterhaltsam, gespickt mit Orgien und Intrigen. Einfach eintauchen, rät Idrizovic. Super übersetzt und immer noch aktuell, lobt Müller das Buch, das Evaristo vor gut 20 Jahren geschrieben hatte und das jetzt ins Deutsche übersetzt wurde.
Über Michael Köhlmeiers „Das Philosophenschiff“ herrscht wieder Uneinigkeit. Ist die Geschichte einer Hundertjährigen, die als junge Frau per Schiff aus Russland ausgewiesen wurde, sich an Deck mit Lenin unterhielt und Jahrzehnte später davon erzählen will, eine Hommage ans Geschichtenerzählen oder eine Geschichte mit politischer Botschaft? Für Idrizovic geht es in erster Linie ums Erzählen, Lintner widerspricht, denn für sie ist das Buch ein Abgesang auf jede Form von Revolution und damit politisch. Müller stimmt ihr zu. Das Buch verweise zudem auf die politische Gegenwart, denn noch immer würden in Russland Oppositionelle unterdrückt, eingesperrt oder zur Ausreise gezwungen. Einig sind sich die drei aber, was die Qualität angeht.