Zum Beispiel die "Hochbahn" oder der titellos ins Bild gerückte hohe Baukran: breiter Pinselstrich, rascher Pinselstrich, kräftige Farben, gezoomtes Motiv aus dem Genre der Großstadtmalerei, wie sie spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dann auch von Ernst Ludwig Kirchner und Max Beckmann ausdrucksstark gepflegt wurde. Nichts bei der Ansicht der "Hochbahn" oder des Baukrans wirkt ausgetüftelt, sorgsam ausgearbeitet, elaboriert. Angestrebt wurde dagegen vehement: schnelle Auffassung, Umsetzung in einem "Wurf", auch wenn die Farbe rinnt. Also genau so, wie es die sogenannten Neuen Wilden in den frühen 1980er-Jahren auf breiter Front und gleichsam im Affekt tun sollten. Nur: Karl Horst Hödicke, geboren 1938 in Nürnberg, Schüler Fred Thielers, war vor den Wilden da mit seiner heftigen Malerei, unterrichtete in Berlin auch zwei seinerzeit aufstrebende "Neue Wilde", Helmut Middendorf und Salome. Und so blieb ihm notorisch bis zum Tod im Februar 2024 das Attribut "Vater der Neuen Wilden".
Maler Horst Hödicke gilt als "Vater der Neuen Wilden"
Mit ein bisschen Einfühlungsvermögen kann man sich vorstellen, dass Hödicke der Titel zwar Freude bereitete, andererseits zunehmend befremdete, weil er selbst stetig weniger über seine eigene Kunst definiert wurde, denn über die, die diese Kunst erfolgreich weiterführten. Das bestätigt heute im Gespräch sein Sohn Jonas Hödicke – ergänzt um jene obligate ironische Reaktion, wenn Vater Hödicke auf sein Attribut angesprochen wurde: "Wo ist die Mutter?" Und Jonas Hödicke, selbst Maler, bilanziert das Stereotyp mit Goethe, mit dem leicht abgewandelten Zauberlehrlingszitat: "Die Geister, die er rief ..."
Nun sind 25 Werke Karl Horst Hödickes – wie ein Nachruf plus Ausrufezeichen – in der Galerie Noah ausgestellt. Als die Schau im vergangenen Winter von Wilma Sedelmeier konzipiert worden war, lebte der Künstler noch. Indem chronologisch Malerei und zwei Skulpturen aus den Jahren 1964 bis 2023 präsentiert sind, kann dem Unternehmen der Untertitel einer kleinen Überblicksschau beigemessen werden – beginnend mit einer "Diva" in weißem Nerz, die bepackt mit Rosen und Einkaufstasche dem Fond einer schwarzen Limousine entsteigt (unverkäuflich), endend mit dem letzten Selbstporträt, auf dem Hödicke im Rollstuhl, aber aufrecht, wach, selbstbewusst seine Betrachter anschaut (verkäuflich).
Die Welt präsentierte sich Hödicke beim Blick aus dem Fenster
Dazwischen freilich leuchtet, glitzert, blinkt, rauscht und warnt die Großstadt im Allgemeinen, Berlin im Speziellen. Kulminierend in besagter "Hochbahn", kulminierend zudem in einem "lauten" Krankenwagen mit eingeschaltetem Warnlicht, in "Silvester 1989", in einer Straßencafé-Szene, in einer Großbaustelle ("Caterpillar"). Hödicke musste nur, so schilderte er es einst lapidar, zum Fenster seines Ateliers nahe dem Potsdamer Platz schauen, um eine übervolle Welt gleichsam auf dem Servierteller präsentiert zu bekommen, die er dann "sehr schnell, wirklich schnell" mit Polyester-Harz auf die Leinwand warf. Sollte ein besonders starkes Bild des Berliner Stadtumbaus seit der Wende hervorgehoben werden, so eben "Caterpillar". Weil hier gleichzeitig zur raschen Arbeitsweise eine ineinander- greifende, verdichtete Formsprache Einzug hält: das dynamische, "rhythmische" Baggern von Greifarmen und Schaufeln.
Was in der Basis dieses Großformats auch zu sehen ist, kehrt in Hödickes Malerei immer mal wieder als ein Leitmotiv und Gegenstand bildwürdigen Alltagslebens: ein rot-weiß gestreiftes Band, ein Absperrband. Doch hat es bei Hödicke mitunter auch noch eine zweite Funktion: als Bandage Verletzter, insbesondere Kriegsverletzter. So zeigt eine weitere starke Malerei der Schau "Armisten", zwei Figuren, die körperbandagiert ihren rechten Arm recken, die eine mit ledernem, martialischem Schultergürtel, die andere mit Rotkreuz-Abzeichen, gleichsam Brandstiftung plus Feuerwehr in persona. Letztlich weckt die Arbeit Assoziationen zur dunkelsten Vergangenheit Deutschlands – so, wie andere bandagierte Figuren mit Hammer und Sichel als Handprothesen Assoziationen an "Rotarmisten" wecken. Hödicke indes machte keinen Unterschied zwischen dem schindenden und geschundenen deutschen und russischen Militär; er meinte den erst indoktrinierten, dann verwundeten Soldaten an sich.
Katrin Beise stellt im Studio Stillleben aus
Was noch zu sehen ist bei "Noah": Malerei der 1972 in Leipzig geborenen Katrin Brause, eine Neo-Rauch-Schülerin. Ihr Thema im Studio der Galerie ist das (gegenständliche) Stillleben vor dem (abstrakten) Verputz von Mauern und Wänden. Das anscheinend Gewisse wird hinterfangen von Malnebeln.
Galerie Noah: Karl Horst Hödicke und Katrin Brause. Laufzeit bis 14. Juli. Geöffnet Di. bis Fr. von 11 bis 15 Uhr; Sa., So., Fei. von 12 bis 17 Uhr.