Ein Meter fünfzig – in Corona-Zeiten ist dies das Maß des nötigen Abstands. Warum sollten daran nicht auch Künstler Maß nehmen? Dachten sich Michael Grau, der Kulturreferent der Moritzkirche, und seine Kollegin Leslie Seymor, die Leiterin des Moritzpunkts. Beide sahen darin „eine Chance, damit zu experimentieren, was der Raum hergibt“ – nämlich der leer geräumte Moritzpunkt an der Maximilianstraße 28 – und zugleich eine Möglichkeit, notleidende Künstler mit einem bezahlten Auftrag zu versorgen.
„Sie sehen die Welt unter einem ganz eigenen Blickwinkel“, erklärt Michael Grau. An „einsfünfzig“ kann man wortwörtlich herangehen, aber auch in die Tiefe schürfen. Das haben die von der Moritzkirche eingeladenen Künstler wirklich getan. Inspiration erhielten sie von einem präparierten Meterstab, dessen letzte fünfzig Zentimeter rot eingefärbt sind. Mit ihm konnten die Künstler experimentieren oder spielen, ihn in die Arbeit einbeziehen oder selbst zum Akteur machen. Immer wird die verordnete Distanz zum Maßstab des Zusammenlebens.
Wo liegt die Tabu-Grenze?
Auf diese Weise kam es auch zu den Klappfiguren von Norbert Schessl. Je zwei lässt der Bildhauer an einer stabilen Stütze schlenkern. Bei den Besuchern löst er damit einen Spieltrieb aus, sodass sie die Grundfigur veränderten. „Anstandsstück“ nennt Schessl seine Skulpturen hintersinnig. Was darf man nehmen? Wie berührbar ist das Exponat? Wo liegt die (Tabu-)Grenze?
Brigitte Kronschnabl dagegen breitet sich als Zeichnerin auf 1,50 Meter Papier aus. Die Künstlerin arbeitet sich von den äußeren Rändern voran. Zwei Gesichter stehen sich gegenüber; um sie breitet sich märchenhafter Dschungel aus. Das grüne Paradies ist bevölkert mit Affen, Papageien, Eichhörnchen, Käfern, Rehen – eine Augenlust, ein künstlerisches Loblied auf die Natur. Wäre nicht diese Kluft in der Mitte! Nichts kann hier zueinander kommen.
Das Lieblingswort lautet "Du"
Die Grafikerin Ruth Wild wiederum rahmt mit dem Meterstab eine kalligrafische Arbeit ein. In blockhaften Lettern schreibt sie Rose Ausländers Gedicht „Wort an Wort“. So nah wie möglich reihen sich die Buchstaben aneinander. Doch immer trennt sie ein Punkt. Das Wort, der Gedanke sind freier als die Rahmenbedingungen, unter denen sie ausgesprochen werden. Alles gipfelt in dem Lieblingswort „Du“.
Chris Dittrich nimmt sich Freiheit auf einer Leinwand von exakt 1,50 m Höhe. Seine „Dots“ setzt er verschiedenfarbig in den Raum. Sie ergänzen sich gegenseitig zu einem munteren Spiel, ohne sich zu bedrängen. Fast beginnen sie dreidimensional zu schweben beim Betrachten. Ausdrücklich spricht der Maler von einem work in progress, es könnte immer noch etwas hinzukommen.
Die Fotografin Mercan Fröhlich demonstriert an einem Selbstporträt exemplarisch die Kunst der Lichtbildnerei. Auf der Schwarzweiß-Aufnahme modelliert sie ihr lockiges Haar mit gleißend einfallendem Licht, was zu einem Effekt von dynamischer Verfremdung führt.
Auf dem Bildschirm läuft derweil eine wortlose Slapstickkomödie aus der „Wohngemeinschaft“ des Sensemble-Theaters. Ein Familienausflug im Kleinwagen unter Einhaltung von 1,50 m Abstand? Macht einige Umstände, lässt sich aber mit skurrilen Einfällen bewältigen. Anziehende Visuals schließlich entwarf Stefanie Sixt für die elektrisch bearbeiteten Vibrafonklänge von Markus Mehr in „Goddess & Badness“.
Das Drahtkleid als Symbol
Rund 20 Künstler will Michael Grau an dem Projekt beteiligen. Einige Arbeiten kommen erst noch. So werden Sabine Lutzenberger und ihre Tochter Magdalena ihre gemeinsame Performance mit Gesang und Tanz in der Moritzkirche als Video aufzeichnen. Zwischen ihnen steht dabei ein Drahtkleid – Symbol der langen künstlerischen Entbehrung. „Mein Konzertkleid habe ich seit Monaten nicht mehr angehabt“, sagt die Sängerin und Mutter. Auch die Tänzerin und Tochter Magdalena konnte nicht auftreten. Nun lassen sie auf ihre Weise spüren, was es heißt, Abstand zu nehmen, und machen die künstliche Distanz sichtbar.
Pastoralassistentin Leslie Seymor formulierte Texte für zehn Karten mit geistlichen Impulsen zu der Ausstellung. Mit Themen wie „Ungleichgewicht“, „Abstandshalter“ oder „Bodenhaftung“. Seymor erkennt in dem Projekt auch die Chance, den Moritzpunkt als Treffpunkt in Erinnerung zu halten. Tatsächlich beobachtet sie, wie oft jetzt Menschen den Kopf hereinstecken, denen der Moritzpunkt der katholischen Cityseelsorge vorher nie aufgefallen ist. Gerade der leere Raum mit Kunst macht neugierig. „Es ist eben noch nicht alles normal, auch wenn es sich schon so anfühlt“, sagt sie. Zusammensitzen darf man allenfalls im kleinen Innenhof. Auf den Tischen stehen dort übrigens Sanduhren – „und viele Besucher sind überrascht, wie viel sie in einer Stunde lesen, oder wie rasch im Gespräch eine Stunde verrinnt“.
ist der Moritzpunkt in der Maximilianstraße von Montag bis Freitag zwischen 14 und 18 Uhr. Am Dienstag, 28. Juli, 19 Uhr, ist ein Diskussionsabend unter dem Titel „Senf dazu“ geplant. Die Ausstellung läuft zunächst bis 8. August, eine Verlängerung ist nicht ausgeschlossen.