„Ist das schön!“, ruft eine Dame in den langsam abklingenden Applaus, irgendwann in der Mitte des Konzerts. Wohl weniger aus Übermut als aus Simin Tanders Fähigkeit, das Publikum völlig in ihren Bann zu ziehen. Und das schon nach wenigen Sekunden. Die ersten flirrenden Becken, die sanft erwachende Trompete und die sich langsam von gehaucht zu gesungen entwickelnden Töne machen die hitzeglühende Innenstadt und das Leergutgeklirre vom Getränkestand vergessen und versetzen einen in die afghanische Wüste, in den Orbit eines extrasolaren Planeten, in einen weiten Raum, in dem es nichts gibt außer Dunkelheit, Stille und Simin Tanders Musik.
„Unfading“ heißt das aktuelle Album der Kölner Sängerin und Komponistin, es ist eine Hommage an die Unvergänglichkeit der Poesie afghanischer Frauen vom 17. Jahrhundert bis heute. Und an die Unvergänglichkeit eines Moments der reinen Schönheit, wenn wie beim Titelsong des Albums vier Seelen und ihre Instrumente verschmelzen. Auf der Platte ist es nicht zuletzt die Viola, deren Spiel einen fast zu Tränen rührt. Auf der Brunnenhof-Bühne des Augsburger Jazzsommers ist es die federzarte Trompete des Norwegers Jonas Kilmork Vemøy, die diese Rolle einnimmt. Immer wieder vereinigt sich ein warmer, lange gehaltener Ton mit den Akkorden aus Björn Meyers sechssaitigen Bass zu einer Harmonie, die einem trotz der tropischen Hitze die Haare auf den Armen emporstehen lässt. Meyer versteht sein Instrument weniger als Rhythmus- denn als Harmonieinstrument, was sich später im Set in ein höchst ungewöhnliches, aber unwiderstehliches, geschlagenes Akkordsolo übersetzen sollte. Sein Bass ist wie ein tieferer, mit Ecken und Kanten versehener Bruder der Akustikgitarre und dient wie die Klangmalerei aus Bögen und Händen von Schlagzeuger Samuel Rohrer dazu, der Stimme Simin Tanders so viel Raum wie möglich zu schaffen.
Augsburger Jazzsommer 2023: Vokalkunst und Silbenrodeos
Ihre Stimme ist ausdrucksvoll und wehmütig, sanft und aufmüpfig, Trost spendend und mysteriös. Sie beherrscht Vokalkunst mit halsbrecherischen Silbenrodeos, Beat-Poetry-Vortrag und einem Hauch Beatbox, aber vor allem wirkt ihre Stimme wie die transzendente Verlängerung ihrer Arme, die jede Person im Publikum an sich ziehen und sie an Orte mitnehmen, die man sonst nur aus Träumen kennt. Hier spielt keine Band, die nur Stücke der Sängerin interpretiert, damit die dann dazu singen kann. Tanders Quartett ist das Bett, das nur für den Fluss ihrer Stimme erschaffen wurde, es hebt ihre Stimme wie Flügel in die Höhe, es macht die Geschichten, die diese Stimme erzählt, so fesselnd. Geschichten über Liebe und Trauer, Vergänglichkeit und Ewigkeit, die See und die Wüste.
Es ist fast nicht zu glauben, dass die Band in Augsburg in dieser Besetzung das erste Mal zusammenspielt. „And the water stretches far away“ gleicht einer Wanderung durch die afghanische Heimat von Tanders Vater, an dessen Ende der erste erlösende Windhauch durch das Blätterdach des Hinterhofs rauscht. Das anschließende Drumsolo ist ein leise anrollendes Gewitter, das sich aber nicht im Sturm entlädt, sondern mit Tanders Gesang eine Begleiterin bekommt, die das Bedrohliche in reinen Rhythmus, in reine Freude an der Musik verwandelt. Ist das nun okzidentaler Jazz mit orientalischem Gesang? Mag sein, ist aber auch egal. Tanders Musik beweist, dass Jazz kein Lehrbuch braucht, keine Vorschriften, keine Grenzen. Jazz ist nicht nur New Orleans und New York, Jazz kommt auch aus Kabul und aus Köln. Jazz gehört allen. Beim letzten Song in der Dämmerung bewegt vor der Bühne ein kleines Mädchen ihre ausgebreiteten Arme zur Musik. Ist das schön.