Spezialität der Augsburger Regisseurin Gianna Formicone ist das Kombinieren von Recherche, Musik, Tanz, Theater. Sie ist keine Sitz-Regisseurin. Also keine, die am Schreibtisch den Theatertext anderer mit eigenen Anweisungen garniert und dann die Darsteller dirigiert. Sie geht raus, recherchiert, spricht mit den Menschen. "Ich will darstellen, was tatsächlich auf der Straße und in den Leben der Menschen los ist", erklärte sie nach der Uraufführung ihrer neuen Performance "Dreh raus" im Gespräch mit unserer Zeitung.
Location der Uraufführung von "Dreh raus" im Rahmen des Friedensfestes war der Innenhof der ehemaligen Glaserei Wiedemann in der Bäckergasse. Ein düsterer, vergänglicher Ort, den das Ensemble Bluespot Productions für die Dauer des Friedensfestprogramms in ein "House of new realities" verwandelte: Künstlerinnen und Künstler, die aus den leer stehenden Stockwerken eine gemeinschaftliche, soziale und künstlerische Skulptur zauberten. Als Bühne für "Dreh raus" waren Skulptur und das nackte Kopfsteinpflaster unter freiem Himmel perfekt. Dazu ein paar Bierbänke und Stühle für etwa 80 Zuschauer – Zutaten für ein ungewöhnliches Theatererlebnis.
Fragen an eine junge Mutter aus Oberhausen
Eintritt, lautes Staunen und Lachen sind frei an diesem Abend. Zwei Schauspielerinnen (Daniela Nering, Larissa Pfau), tausende Papierblätter in Stapeln, vier durchsichtige Kisten und eine Klarinettistin (Anna Harzenetter) – mehr braucht es nicht für dieses Stück um Freiheit und Hamsterrad, um äußere Zwänge und Selbstbestimmung. Als schwindelerregendes Karussell umkreisen die Frauen zwischen jeder Episode tanzend und verzerrt lächelnd die Bühne. Das Lächeln eher ein unfreies Grinsen.
Eine junge Mutter aus Oberhausen wird von der Moderatorin gefragt: Ist sie zufrieden, glücklich? Der Kleine könne den Löffel jetzt schon selber halten, aber etwas mehr Zeit für sich zu haben, das wäre toll. Arbeit? Ja, Arbeit wäre gut. Und das Hamsterrad beginnt zu rattern. Emsig räumt die Mutter zu hektischen Klarinettenläufen im Akkord Papierstapel und Kisten hin und her. Einen Sinn hat das nicht, aber sie nennt es "Zeit für sich". Wollen wir so leben?
Rund 40 Interviews hat die Regisseurin geführt
Ein mobiler Altenpfleger aus Oberhausen, Salih (Larissa Pfau), und ein Angestellter eines Oberhauser Dönerladens, Nevit (Daniela Nering), übernehmen die Bühne. Auch sie stecken in ihren Karussells fest. Früh raus, Döner falten und Alte beruhigen, spät heim, keine Zeit für die Familie. Nevit wünscht sich, der Tag hätte 33 Stunden. Dann würde er mehr schlafen, Sport und mehr mit den Kindern machen und mit Verwandten in der Türkei telefonieren. Eine größere Wohnung wäre auch schön, aber er lacht, beschweren will er sich nicht. Er weiß, er hat keine Chance. Auch Salih beschwert sich nicht. Mehr Geld wäre schön, sagt er. Aber das Wichtigste sei ihm Sicherheit für die Zukunft.
Die Atemlosigkeit des Oberhauser Alltags, der auch in Lechhausen oder Göggingen spielen könnte, ist spürbar, extrem wandlungsfähige Schauspielerinnen hauchen jeder ihrer Figuren einen eigenen Charakter ein. Klar wird: Die Hamsterräder, in denen sie feststecken, sind nicht nur belastend. Sie vermitteln auch Sicherheit, man weiß, was die Tage bringen, wofür man aufsteht.
Hat das Zwangs-Karussell der Umstände einen Ausstieg oder wenigstens einen Knopf für Slow Motion? Wo bleiben die Rebellen, haben sie noch Platz für Entfaltung bei so viel Reglementierung? Die etwa 40 Interviews, die Regisseurin Formicone und Studentinnen in Oberhausen im Vorfeld des Stücks geführt haben, bringen authentisches Leben auf die Bühne. Die sinnliche, emotionale Klarinette bringt teils improvisiert, teils einstudiert die dichte Atmosphäre zum Klingen. Ein ästhetisches, gleichzeitig reales Erleben, das nach dem Selbstverständnis des Einzelnen wie der Stadtgesellschaft als Ganzes fragt.