Ohne Stimme blieben von Worten nur leere Hüllen. Sie lässt selbst einen der grundlegendsten Ausdrücke der zwischenmenschlichen Kommunikation, das Wort „Ja“, je nach Stimmlage interessiert oder gelangweilt klingen, bedrohlich oder versöhnlich. Die Stimme vermag zu betören, einzuschüchtern und zu erheitern, sie flüstert, knurrt oder schreit vor Freude und vor Schmerz. Im Pleistozän waren die Voraussetzung für empirische Forschung sicher nicht die besten, doch kann man davon ausgehen, dass es Laute waren, mit denen sich unsere behaarten Vorfahren verständigten und so die Urform der Sprache entwickelten. Der Klang und das Gemeinte spielen von der primitiven bis zur Hochkultur zusammen, von der Mammutjagd bis zur Lyrik.
Martyn Schmidt veröffentlicht unter dem Label "atemwerft" drei Werke Augsburger Klangkünstler
Ein geschriebenes Gedicht überlässt Klang und Rhythmus der Fantasie der Lesenden: „Es ist wie eine Notenpartitur“, sagt Lyriker und Klangkünstler Martyn Schmidt, es fehle der Sinn des Hörens. So gründete er 2013 das Vocal Arts Label „atemwerft“, um die Stimme und ihre Randbereiche ins Licht zu rücken und „Tinte zu Atem werden zu lassen“. Zum Ende des Jahres und zum Ende des Labels in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht Schmidt drei Werke Augsburger Klangkünstler, die jeweils auf eigene Art verdeutlichen, was mit diesen Randbereichen gemeint ist.
Auf dem Livealbum „III & IV“ verdichtet der Experimentalmusiker Emerge Vokalimprovisationen zu einem unheilvollen Dröhnen, als höre man obertonsingenden Geistern bei der Mediation zu. Schmidt selbst jagt bei „Voice of Newroses“ seine Stimme unter dem Namen Yield durch eine Loopstation und interpretiert dabei den Rhythmus von Psychose und Wahn. Schließlich konzentriert der Lyriker und Musiker Gerald Fiebig auf der Platte „Voiceworks“ die beiden künstlerischen Universen, in denen er sich seit vielen Jahren bewegt, zu einem halbstündigen, dadaistischen Rausch.
Als sich die Dadaisten vor über 100 Jahren zu einer künstlerischen und literarischen Bewegung formten, geschah das mit der Absicht, sämtliche Konventionen über Bord zu werfen. Oder, wie Fiebig es in der Rückschau auf seine ersten Bühnenauftritte formuliert, „sich einfach hinzustellen und machen, über das die Leute sagen: Was ist das denn für ein Blödsinn?“ Es wäre niemandem zu verübeln, sollte das Wort „Blödsinn“ vor dem geistigen Auge auftauchen, wenn Fiebig im Stück „Echokammer vs. Schreizimmer“ die Wendung „mit Grillparzer im Brüllkarzer“ bei sich kontinuierlich steigerndem Tempo so oft wiederholt, bis er atemlos über die zungenbrechenden Silben stolpert und alles zu einem phonetischen Scherbenhaufen zusammenkracht.
"Alles klingt komisch, wenn man es hundertmal hintereinander sagt"
Doch es wäre zu einfach, diese Kunst auf Verweigerungshaltung, Provokation oder puren Unsinn zu reduzieren. Es geht um Reduktion und Dekonstruktion, es geht um das Durchbrechen von Hörgewohnheiten – und um das genaue Hinhören. „Alles klingt komisch, wenn man es hundertmal hintereinander sagt“, so Fiebig, das gelte in jeder Sprache. So entdeckt man in dem Satz „Tout Abus Sera Punis“, ein französischer Warnhinweis vor Missbrauch von Notbremsen, einen Viervierteltakt. Sobald der Satz ohne französische Lautung ausgesprochen wird, bekommt er einen Auftakt und klingt wie ein lateinischer Psalm, der von einem blendend aufgelegten Priester zum Hochamt verlesen wird.
Seit 2018 sammelte Fiebig Material für das Album, einiges davon war schon bei seinen Auftritten zu hören. Die frühen Tage des Poetry Slams in Deutschland, in denen Augsburg dank Horst Thieme eine gewichtige Rolle spielte, beeinflussten sein Schreiben und seine Performance auf der Bühne. Dort sollte er auch auf seinen späteren Freund Martyn Schmidt treffen, sie untermalten ihre Spoken-Word-Darbietungen gegenseitig mit Geräuschen und Krach; Fiebig motivierte Schmidt zur Gründung des Labels, Schmidt brachte Fiebig zur experimentellen Musik.
Bei "atemwerft" rückt geschriebenes und gesprochenes Wort in Fokus
So könnte es doch weiter gehen, doch Schmidt hat andere Pläne: „Der Charakter der Sprachkunst ist vor lauter Klangkunst aus dem Fokus gerückt“, daher werde er im nächsten Jahr sein Label neu aufstellen und sich auf das geschriebene und gesprochene Wort konzentrieren. Die aufwendig und liebevoll gestalteten physischen Veröffentlichungen von „atemwerft“ – handnummeriert, aus edlem Karton gefaltet, mit Originalfotografien und Siegel versehen – werden zu Mappen, in die Poetinnen und Lyriker Blätter mit handgeschriebenen Gedichten legen, in denen Kunstdrucke und Artefakte zu finden sind und auf CD die Stimmen der Künstler selbst zu hören sind.
Der Blick geht dabei weit über den Stadtrand hinaus, die Künstler der ersten Veröffentlichungen stammen aus Manchester und Puerto Rico. Die Allererste kommt aber von Schmidt selbst. „12 Warnungen an die Stille“ wird sie heißen, eine Hochzeit von gesprochener Lyrik mit musikalischen Sprachbausteinen. Es ist eine Kunst, die man vor einer Bühne erleben muss. Oder eben zu Hause, doch da benötigt sie Zeit und die nötige Ruhe. Denn nur dann entfaltet sich die volle Wirkung von Schmidts künstlerischen Mission: „Ich möchte der Stille Lautstärke verleihen.“