Das Cello legt sich in seinen Koffer. Die Geige schließt eine Reiseversicherung ab. Die Bratsche schwingt sich auf zum letzten Arbeitstag vor den Ferien: Die Bayerische Kammerphilharmonie, die in die Spielzeit 2023/24 wieder zig Konzerte auf höchstem Spielniveau präsentiert hat, hat sich eine Sommerpause redlich verdient. Und dazu passt auch der Titel des letzten Konzerts der Saison so gut wie das Schirmchen zum Sommer-Cocktail: „Ab in den Urlaub“. Das Orchester lockt sein Publikum auf eine Europareise. Welche Route dieser Abend im Parktheater Göggingen nehmen wird, das will der Leiter des Ensembles aber nicht verraten: „Damit es für Sie einen guten Überraschungseffekt gibt, haben wir Ihnen das Programm diesmal vorenthalten“, erklärt Valentin Holub dem Publikum und lächelt. Fest steht allerdings: Diese Reise wird kabarettistisch begleitet. Der Kölner Humorist Martin Zingsheim führt durch den Abend, als Moderator und Reiseleiter.
15 Kammerphilharmoniker spielen zum Auftakt die festliche Eurovisions-Hymne - im Original nicht für Thomas Gottschalk erfunden, sondern vom französischen Barockmeister Marc-Antoine Charpentier komponiert. „So feierlich würde ich gerne jeden Abend auf die Bühne kommen!“, sagt Martin Zingsheim und beginnt zu philosophieren. Der Kontinent bröckelt, an Europas Einheit nagen Politiker wie Orban und Le Pen. Europa, „das hört sich heute eher so an“: Version zwei der Hymne, diesmal in Moll und Düsternis getaucht, den letzten Ton lassen die Streicher kunstvoll abschmieren. Die Pointe sitzt, das Publikum lacht herzlich bis bitter.
Und dann beginnt die klug abgesteckte Überraschungs-Tour. Erster Urlaubs-Stop: Spanien. Natürlich etwas problematisch, da dort noch immer Toreros unschuldige Stiere in Arenen erdolchen. Zingsheim ringt um vegane Alternativen: „Stiere aus Tofu, Seitan oder Erbsenprotein“? Viel musikalisches Fleisch ist dran am „Gebet des Stierkämpfers“ von Georges Bizet, das die Kammerphilharmoniker jetzt spielt. Sirrende Geigen erzeugen die flirrende Hitze vor dem Kampf. Auf einhellige Streicher-Gebete folgt der Kampfesruf aus der Bass-Tiefe. Ein Start mit Flair und höchster Konzentration.
Weg vom Ernst des Kampfes, hin zum Schmäh der liebsten Nachbarn: Die Reise springt nach Österreich, zu Wolfgang Amadeus Mozart und mitten hinein in die „Kleine Nachtmusik“. Dieser „Klingelton“? Diese Melodie aus der „Warteschleife“? Verliert niemals an Reiz! Hier klingt der erste Satz nicht wie 1000 Mal gespielt, sondern mit Esprit, mit viel Sinn für das Spiel von Frage, Antwort, Echo, Reaktion.
Erst bei einem musikalischen Stopp in Belgien spürt man: Der Weg wird steiler, härter, abenteuerlich. Eugène Ysaÿes Werk „Exil!“ sticht heraus aus dem Programm als ein himmelwärts strebendes Liebesleid-Stück. Nach dieser komplexen Elegie entspannt sich die Lage erst mit Chopin, mit einer Heimweh-Mazurka aus der Feder des Polen. Ach Polen! Berge, Seen, blühende Landschaften, strengster Katholizismus. „Wo findet man das sonst? Vielleicht in Oberbayern“, scherzt Zingsheim und verwickelt darauf gefühlt 52 Bibel-Sprichwörter in einen kunstvollen Monolog.
Schwung schöpft der Abend aus der folkloristischen Romantik: Auf Wanderschaft sammelte der Ungar Béla Bartók Volksmusikklänge im Osten Europas, 1115 Melodien insgesamt, und hier in Augsburg erklingen seine rumänischen Tänze. Sinfonisch veredelt, getragen von leisem Spielwitz, verfeinert durch ein Solo des Konzertmeisters Gabriel Adorján. Großer Applaus.
Aber Moment, sich bei anderer Leute Lieder zu bedienen ... ist das nicht ... „kulturelle Aneignung???“, seufzt Zingsheim und saugt Luft ein wie ein gestresster Staubsauger. Eine Überleitung mit Scherz zu Johannes Brahms‘ „Ungarischen Tänzen“. Diese Musik hat der Hamburger komponiert, ohne jemals in Budapest gewesen zu sein. Sein tänzerischer Ohrwurm brummt jetzt drauflos und bohrt sich tief in die Gehörgänge. Dagegen seltener gehört: das Streichquartett des französischen Romantikers Maurice Ravel. Pizzicato-Regen, feinstes Pianissimo, mit Zugkraft und perfektem Timing gestalten die Kammerphilharmoniker ein hinreißendes Stimmungsbild.
Dann gen Süden, in das Land, in dem Zitronen blühen und der Limoncello fließt - trockener Kommentar Zingsheims zur italienischen Spirituose: „Ein Schluck aus der WC-Ente hätt‘s auch getan“, sagt er und das Publikum lacht wissend. Was dann zu einem harten Bruch führt: denn in Puccinis „Il Crisantemi“ ist der Tod das Hauptthema. Diese schwelgende, gestrichene Erinnerung führt über ein Duett zwischen Geige und Cello, über wogende Bratschen. Aufblühen und Verblühen.
Es war ein Konzert mit leichtem, aber auch schwerem musikalischem Gepäck. Ein Querstrich durch die Klanglandschaften des Kontinents, vereint in Eigensinn und Schönheit: So viel Harmonie in Vielfalt kann man dem politischen Europa nur wünschen.
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