Eine Studentin kommt zur Sprechstunde des Professors. Sie hat eine Frage, er wird grundsätzlich. Eine Ewigkeit lang reden sie aneinander vorbei. In einer großen Geste zweifelt er grundsätzlich alle Noten und das ganze System an und macht ihr das Angebot, ihr eine 1 zu geben, wenn sie fortan zum Privatunterricht bei ihm kommt - weil sie ihm sympathisch ist. Sie fühlt sich komplett missverstanden. Harmlos, alltäglich, eine Lappalie, möchte man meinen. Das Gegenteil ist der Fall, es ist der erste Akt zu David Mamets Zwei-Personen-Stück "Oleanna - ein Machtspiel", mittlerweile schon 19 Jahre alt, aber immer noch aktuell, wenn man mal davon absieht, dass Präsenzunterricht an Universitäten in Zeiten der Pandemie die absolute Ausnahme darstellen wird.
Vor zwei Jahren hat das Staatstheater Augsburg das Stück im Hörsaal der Universität Augsburg inszeniert, als ein Beitrag zur #meToo-Debatte. Gleichzeitig war das damals das Ende der Wanderschaft, kurz danach konnte die neue Spielstätte im Gaswerkareal eingeweiht werden. Nun kommt diese Produktion von Regisseur Axel Sichrovsky noch einmal neu heraus, in einer Zeit, in der es gar keine Normalität des Theaterbetriebs gibt. Seit Wochen sind die Zuschauerräume verweist, kann wegen des zweiten Lockdowns nicht gespielt werden.
In seiner Virtual-Reality-Reihe kommt das Augsburger Staatstheater nun auch mit "Oleanna" zum Publikum nach Hause - auf einer Virtual-Reality-Brille. Nur kurz für all diejenigen, die das noch nie gesehen haben: Man muss sich das wie einen Film vorstellen, der mit einer 360-Grad-Kamera aufgenommen wurde. Die Brille verschafft einem ein dreidimensionales Bild von der Kulisse und den Schauspielern. Und: Man kann sich um seine eigene Achse drehen, auch dorthin, wo die Schauspieler gerade nicht aktiv sind.
Erster Ort für VR-Produktion von "Oleanna" wirkt wie eine schöne Kulisse
Je länger das dauert, desto mehr zieht es einen hinein in diese Fassung des Stoffs. Störend ist da nur die Kulisse des ersten Akts, eine alte Barock- oder Rokoko-Bibliothek mit Galerie und alten Globen im Raum, die als Büro des Professors John (Andrej Kaminsky) herhalten muss. Zu alt und viel zu klar belegt als ein Ort, an dem die alten patriarchalen Regeln gelten. Für dieses Stück, das grundsätzlich anzweifelt, dass die Sprache eine Brücke zwischen den Geschlechtern sein kann, das gleichzeitig geschickt die Macht verschiebt, weg vom Professor und hin zur Studentin, für dieses Stück, das so vieles in der Schwebe lässt und dadurch ein kluger Beitrag zur Debatte ist, erscheint dieser erste Ort zu Eindimensional, wie eine schöne Kulisse für die VR-Brille. Und ja, da wirkt der Ort dann schon auch optisch.
Im Anschluss gewinnt diese VR-Inszenierung. Der zweite Akt, ein Zwischenspiel, in dem die Studentin Caroll (Katja Sieder) und der Professor sich gegenübersitzen und die Vorwürfe, die Caroll jetzt erhebt ("Pornografie, eine Vergewaltigung"), erst einmal dramatisch überzogen erscheinen. Beide wirken da wie Geister in einem dunklen Raum, sitzen sich gegenüber, der Zuschauer ist in dieser Zwiesprache buchstäblich mittendrin, umringt von den beiden Darstellern, fühlt sich angesprochen oder wie ein Schiedsrichter in diesem Schlagabtausch.
Staatstheater Augsburg erarbeitet immer mehr digitale Kompetenz
Danach kommt die entscheidende Volte in dieser VR-Produktion. In kurzen Zwischenblenden waren bislang vor den Akten immer Hühner in einem Fernseher eingeblendet, wie kurze Kommentare, die mit Weisheiten aus dem Tierreich veranschaulichen, dass dieser Kampf der Geschlechter nach zoologischen Regeln stattfindet. Nun findet der dritte Akt, in dem Caroll endgültig die Oberhand gewinnt, tatsächlich draußen statt. Als Zuschauer ist man mittendrin in einem Hühnerstall, die beiden Schauspieler, jetzt nicht mehr in ihren Rollen, suchen den Zuschauer, bringen ihn, in Form der Kamera nach draußen.
Das Licht ist grau, der Himmel verhangen, in einiger Entfernung ist der Gaswerksturm als Landmarke zu sehen, das ist ein wirklicher Ort, mit echten Hühnern, und zwei Mal queren auf dem Weg hinterm Stall auch Passanten das Bild. Gegenüber steht ein Pferd auf der Koppel, ein Ort, den man in Augsburg tatsächlich finden kann. Und da bricht der Regisseur (wie auch schon in seiner Hörsaal-Inszenierung vor zwei Jahren) das Setting auf, lässt die Darsteller Regie-Anweisungen sprechen, auch darüber spekulieren, warum sich so oft Männer in Stücken ausziehen, die von Männern inszeniert werden. Kaminsky und Fiedler tauschen dazu zwischendrin auch noch die Rollen. Man hat in diesen Augenblicken den Eindruck, dass diese Geschlechterzuweisungen beim Menschen etwas Gemachtes sind, ganz weit weg von den Hühnern, die sich nicht groß von den beiden Schauspielern stören lassen. Ja, das geht auf. Und: Von Stück zu Stück erarbeitet sich das Staatstheater Augsburg für seine VR-Brillen mehr digitale Kompetenz und künstlerische Virtuosität im Umgang damit. "Oleanna" lohn sich auch in dieser Fassung.
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