Provokante Fragen, die das Evangelische Forum Annahof mit seinem Referenten Karl-Helmut Lechner zum Friedensfest stellte: Geht es auch ohne Religion? Oder haben Religionen nach 150 Jahren Emanzipation vor allem von der katholischen Kirche noch eine Daseinsberechtigung? Ist nicht zu fordern: Religion hat Privatsache zu sein? Allzu ketzerisch wurde die mit 50 Zuschauern gut besuchte Veranstaltung dennoch nicht. Denn Lechner ist nicht nur Marxist, er ist auch protestantischer Theologe.
Innerhalb der Linken, deren schleswig-holsteinischem Landesverband er angehört, vertritt Lechner eine Minderheitenmeinung. Das gibt er offen zu. Für die linke Mehrheit gelte: je weniger Religion in der Öffentlichkeit, desto besser. Zwar zählt er sich auch zur freidenkerischen Tradition. Die Forderung, dass Religion Privatsache zu sein habe, hält er jedoch für falsch. Lediglich den Staat gehe es nichts an, wer was wie tief glaubt. Die Gesellschaft hingegen müsse sich mit den Menschen auseinandersetzen, denn Religion werde nicht verschwinden.
Als Bismarck systematisch die politische Enteignung der Kirchen vorantrieb, strich er deren Hegemonie über Bildungswesen, Wohlfahrt und Familienrecht. Er wies die Jesuiten in ihre Schranken und setzte ein Philosophiestudium für Pfarrer durch. Die Arbeiterbewegung jedoch, so erklärt Lechner, ging diesen Weg nicht mit. Für sie waren Staatsgewalt und Fabrikherren der Feind, nicht Gott. Der dialektische Materialismus von Friedrich Engels hingegen sah die Interessen der Arbeiter auf das Diesseits konzentriert.
Doch die Revolution 1918 zeigte: Gläubige Menschen sind gegen linke, radikal-laizistische Politik. Mit Blick auf islamische Institutionen beziehungsweise islamistische Forderungen an Staat und Gesellschaft müsse die Lehre also sein: Die Gesellschaft muss die jeweiligen Freiheiten und Widersprüche aushandeln. Das Grundgesetz dabei zum neuen heiligen Buch aufzublasen, sei keine ausreichende Strategie. Klar bleibt: Wer sagt – wie im Extremfall das Kirchenasyl –, Gewissen und Gott stünden für ihn über dem Gesetz, müsse eben die staatliche Reaktion auf den Regelverstoß hinnehmen. Auch der politische Gestaltungswille muslimischer Institutionen in Deutschland werde unter diesem Aspekt ausgehandelt werden müssen. Dass muslimische Gemeinden analog zu den Kirchen auf den Status „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ zusteuern, findet Lechner rechtlich logisch und politisch richtig: „Dann hören auch diese unzähligen Vereinsgründungen auf. Die Muslime würden gezwungen, intern und inhaltlich Einigkeit herzustellen.“