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Puccinis "La Boheme": Mimi stirbt als Kunstfigur

Puccinis "La Boheme"

Mimi stirbt als Kunstfigur

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    Sopranistin Sophia Christine Brommer.
    Sopranistin Sophia Christine Brommer. Foto: Nik Schölzel

    Augsburg Ein kurzer Blick zurück. Als 1999 der vormalige Augsburger Intendant Ulrich Peters zu seinem Einstand Puccinis Oper „La Bohème“ auf den Spielplan setzte, da wurde diese von Regisseur Ludger Engels vollkommen anti-illusionistisch gelesen und gedeutet. Mehr zog der Dichter Rodolfo aus seiner Liebe zu Mimi Energie heraus, als er Energie in diese Liebe hineinsteckte. Er schrieb verwertend gleich mit, als sie im ersten Akt von ihrem Leben erzählte, er streichelte zärtlich seine Schreibmaschine, während sie im vierten Akt starb. Realität gerann zu Kunst.

    Gut 13 Jahre später erleben wir am Theater Augsburg in der Intendanz von Juliane Votteler einen Regie-Gegenentwurf: Kunst erwacht für dreieinhalb Akte/Bilder zu atmendem Leben.

    Aber es ist nicht Rodolfo, wie man annehmen sollte, der sich Mimi als Traumfrau „erschreibt“ und erschafft, sondern es ist sein Freund Marcello, der Maler, der sich die schöne Blumenstickerin mit sündigem schwarzen Haar in Öl erträumt und ermalt. Diese Kunstfigur Mimi also erwacht nun (mit einem Schwindsucht-Huster) und tritt stockend in das Leben Rodolfos ein.

    Zwischen Heiligabend und Faschingskostümball

    Der Dichter freilich hat der Fleisch gewordenen Imagination schnell etwas entgegenzusetzen: Während seine Künstler-Freunde ins Quartier Latin vorauseilen, entwirft er, der „Millionär an Träumen“, eigens für Mimi eben dieses Quartier Latin als künftige Lebenskulisse, vorerst noch unbelebt. Eben geboren, staunt das Mädchen nicht schlecht.

    Minuten später, im zweiten Bild, erwacht dann auch diese Pariser Szenerie mit kauflustreizender Weihnachtsdeko, mit nostalgischem Holzpferd-Karussell und einer vergnügungssüchtigen Großstadtgesellschaft auf mehreren Etagen. Ein kunterbuntes, wenn nicht gar schrilles, ein wuseliges, wenn nicht gar „trashiges“ Treiben hebt an – angesiedelt zwischen „Heiligem Abend“, Zirkus-Arena, Varieté und Faschingskostümball. Alles reingepackt, bis zur Polonaise. Auch zwei regionale Musikvereine in schwäbischer Tracht finden noch ratternd-schmetternden Auftritt – ohne fehl am Platz zu sein, denn die Partitur verlangt danach. Und Marcellos Freundin Musetta, diese Schwierige, diese Kapriziöse, stöckelt unter lauter Verkleideten elegant über die Bühne als eine Art „Blauer Engel“. Augen- und Abonnentenfutter. Erst zum Finale der Quartier-Latin-Szene (Bühnenbild: Jósef Halldórsson/Kostüme: Filippia Elísdóttir) wird unter der Glanzfolien-Verpackung nachgeschaut. Nun starrt eine Schar von Todesengeln Mimi an und sie starrt zurück. Eine Vision hat Visionen. 

    In solchen Szenen, also immer, wenn Phantasmagorien sichtbar und lebendig werden – oder wieder verschwinden, hat diese Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson ihre suggestiv-düsteren oder suggestiv-poetischen Momente – bis hin zum Schluss, da die moribunde Schimäre Mimi durch eine halbe Drehung des Holzpferd-Karussells gleichsam verweht. War sie überhaupt je da gewesen? Der Traum Rodolfos ist ebenso geplatzt – wie zuvor die Hoffnung seiner Künstlerkommune auf das Idol Karl Marx zerstob und wie als Nächstes die Hoffnung auf das Idol Steve Jobs zerstieben wird . . .

    Werden aber Traum, Hoffnung, Idol bzw. die damit verbundene Erinnerung erst einmal beschworen in dieser Inszenierung Arnarssons, dann erheben sich die Schwärmer gerne auf Stuhl und Tisch. Gedanken verleihen Flügel. Am komischsten geschieht dies beim Vermieter der Künstler-WG: Im Moment, da sich Benoît an süße Liebesstunden erinnert, mutiert er vom pflegekraftumringten Parkinson-Kranken im Rollstuhl zu einem kregelen Don Giovanni, der den Tisch besteigt. So weit, so gut.

    Doch der Abend gibt auch Anlass zu Enttäuschung. So schön der Einfall ist, das lockende Abbild Mimis zum Leben zu erwecken: Spätestens im dritten Akt stellt sich der Zuschauer die Frage, was denn nun aus dieser Idee folgt, im Allgemeinen wie im Besonderen. Aber diese Idee bleibt eine Exposition ohne Durchführung, ohne Verarbeitung. Der „Traum“ Mimi wird bühnenrealistisch oder bühnennaturalistisch erzählt – bis er eben wieder entschwindet. Das Trugbild scheint keinen weiteren Einfluss auf Rodolfos Realität zu nehmen, die Realität keinen weiteren Einfluss auf seine Einbildungskraft. Damit hätte man doch surreal jonglieren können!

    Im vergangenen Jahr flatterte Arnarsson mit der „Fledermaus“ auf und davon, hin zu einem bitteren Ende im doppelten Sinne. Nun, in der „Bohème“, bleibt er gleichsam auf halbem Wege stecken. Angst vor der eigenen Courage? Das große Talent in ihm war damals wie jetzt jedenfalls nicht zu übersehen. Lauwarmer bis freundlicher Applaus für das Regie-Team; keine Bravos, keine Buhs.

    Zur musikalischen Realisierung: Gerrit Prießnitz am Pult machte manches richtig. Er animierte die Philharmoniker zu Gefühlsvollbädern, ließ die impressionistisch-eisklirrenden Farben der Partitur vom Orchester malen, schlug überwiegend straff und exakt. Den Händen nach müssten sich Musiker unter ihm eigentlich wohlfühlen. Doch ging auch einiges schief. Vor allem im ersten Akt konnte Prießnitz Orchester und Bühne nicht immer zusammenhalten, bisweilen ließ er die Sänger in der Klangflut untergehen, und auch ein großer abendüberwölbender Bogen mochte sich nicht einstellen.

    Schnitte im Herzen der Partitur

    Dafür, dass Mimi in dieser „Bohème“ eine Gedankenschöpfung ist, sang Sophia Christine Brommer erstaunlich robust. Mit schnellem Vibrato und metallischer Intensität zog sie gravierende Vokal-Linien wie mit einer Radiernadel. Schnitte im Herzen der Partitur. Für Sekunden konnte einem an diesem Abend der verwegene Gedanke kommen, ob – abgesehen von der Stimmgröße – dieses Timbre nicht Musetta zieren würde. Diese wiederum wurde von Cathrin Lange nicht rein affektiert, sondern zu gegebenem Anlass auch schön warmherzig gesungen.

    Wenn Ji-Woon Kim in der Mittellage disziplinierter agieren würde, wäre für seinen Rodolfo von einer an sich schönen, aber nicht immer durchschlagskräftigen Höhe etliches gewonnen. Dong-Hwan Lee geriet als Marcello nicht an seine Grenzen: ein sicheres vokales Fundament und prägnante Volltönigkeit hob ihn aus dem Künstler-Quartett heraus, das von Giulio Alvise Caselli (Schaunard) und Vladislav Solodyagin (Colline) vervollständigt wurde. Freundlicher Applaus bis Jubel für die Sänger, das Orchester und den Chor (Einstudierung: Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek).

    Nächste Aufführungen 31. Januar, 15., 17., 20., 24. Februar, 3. März

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