Sein Geschäft war Kult. Bis von der Ostsee kamen die Bücherleute nach Blasewitz, Dresden, um im Antiquariat von Norbert Paulini auf Leitern in den obersten und auf den Knien in den untersten Regalreihen nach Büchern zu suchen. Gerade in den extremen Zonen vermuten sie die Werke, die ihnen die Welt erklärten. Er brachte vorgefertigte Pakete mit Gummiband – Bücher, die er für seine Kunden zusammengestellt hatte. Ging es zum Kauf, legte er die ausgewählten Bücher im gleichen Abstand zur Tischkante ausgerichtet auf die Ladentheke. Ein berühmter Antiquar und sein Laden im ersten Stock ein geheimnisvoller Ort der DDR.
Ingo Schulzes Werk ist für den Leipziger Buchpreis nominiert
Nicht die Buchmesse in Leipzig, die Stadtbücherei in Augsburg ist der Ort, an dem Ingo Schulze, der 2013 den Brechtpreis der Stadt Augsburg erhielt, aus seinem neuen Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ liest. Auch ohne die Ausnahmesituation „Corona“, die zur Absage der Buchmesse führte, wäre Augsburg vor Leipzig dran gewesen. Jetzt haben ihn die etwa 240 Zuhörer auf dem Literaturabend der Augsburger Allgemeinen exklusiv für sich. Gerade rechtzeitig, um den den gehamsterten Nudeln zu Hause für alle Fälle noch ein gutes, zumindest ein viel diskutiertes und für den Leipziger Buchpreis nominiertes Buch hinzufügen.
So richtig traurig, das erklärt Schulze im Gespräch mit Kulturredakteur Wolfgang Schütz, ist er persönlich nicht über die Leipziger Absage. Scheinwerfer, Presserummel – man glaubt ihm, dass der Glamour nicht sein Ding ist. 2007 war er einer der Gewinner des Leipziger Buchpreises. Dazu Schulze: „Glauben Sie mir, es ist nicht schön, wenn Sie alleine aufstehen und nach vorne gehen müssen, während alle anderen sitzen bleiben können.“ Noch nicht mal das „Literarische Quartett“ von Thea Dorn, das am Vorabend im Fernsehen sein Buch besprach, hat er sich angeschaut. „Keine Zeit“, sagt er ohne Koketterie.
Auch wenn das Zuhören nicht das Lesen ersetzt: Schon mit den wenigen ausgewählten Leseproben Schulzes schiebt sich ein bestsellerverdächtiges, an Harry Potter erinnerndes Setting ins Blickfeld. Dass die Hauptfigur etwas verschroben, vielleicht auch etwas fanatisch, auf jeden Fall wegen seiner Bücherleidenschaft aber einer von den Guten ist, wird schon auf den ersten Minuten klar. Umso unverständlicher, dass der Antiquar nach der Wende und dem abrupten Komplettabbruch dieses beinah widerständigen Nischendaseins in ein rechtes Milieu abdriftet.
Schütz entlockt Schulze auch Antworten auf intime Fragen
Erklärt das den Osten, zumal Dresden als Ausgangspunkt der Pegida-Bewegung? „Gegen rechts zu sein, darf sich nicht darauf beschränken, nur auf die anderen zu zeigen. Man muss auch die eigene Rolle am Zustand der Welt reflektieren“, antwortet Schulze. Wo Verständigung schwer ist, geht es manchmal besser mit Erzählungen. Deswegen dieses Werk. Und nein, er wusste am Anfang nicht, wo seine Hauptfigur landen würde. Die Wandlung seiner Figur vielschichtig, reicht weit zurück: Der Tod der Mutter bei seiner Geburt, der schwer zugängliche Vater, die Geschäftspleite, die Liebe zu einer „Westfrau“, die in einer komplizierte und katastrophische Menage à trois in den Nachwendejahren mündet.
Mit feinen Fragen gelingt es Schütz, mit dem Autor in die methodischen Tiefen seines Schreibens vorzudringen. Oder wie Schulze selbst sagt: „Bei Gesprächen in diesem Rahmen lerne ich mein Buch kennen, weil ich lerne darüber zu sprechen.“ Für den Sprachstil und die beinah märchenhafte Atmosphäre ließ sich Schulze von Joseph Roth und seinem „Leviathan“ inspirieren. „Mir wurde klar, Roths Legendenstil ist genau das, was ich als Mittel brauchte, um die Distanz und mehr Klarheit zum Jetzt zu bekommen“, verrät er. Gab es den zündenden, den „Paulini-Moment“, mit dem alles begann? Eine Geschichte über Bücher sollte es sein, sagt Schulze. Zu dem Antiquariat inspirierte ihn ein realer Laden in der Brucknerstraße seiner Heimatstadt Dresden. Die Westlerin in seinem Werk hingegen war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. „Auch wenn ich mit einer Pfälzerin verheiratet bin - ich habe den Westen nicht im kleinen Finger. Diese Figur zu entwickeln, war eine echte Herausforderung“, erklärt Schulze.
Wie arbeitet er und wie ordnet er seine eigenen Bücher zu Hause? Intime Fragen, findet Schulze. Die Ordnung in seinen Regalen nicht alphabetisch, sondern nach Geographie und Epochen. Der Tagesablauf ähnelt dem eines Büromenschen. Ein Glücksfall war, dass er im letzten Jahr zwei Monate seine Frau auf Reisen begleiten musste. Viel Zeit zum Schreiben. Nur so schaffte es sein Buch just in time in den Druck.
Die Literatur-Tipps unserer Kollegen
Nach dem Gespräch mit dem Star versammelte sich der Literatursalon auf der Bühne: Moderiert von vom Feuilleton-Chef unserer Zeitung Michael Schreiner duellierte sich die Literatur-Verantwortliche Stefanie Wirsching sich mit Marius Müller, Buchblogger und Leiter der Stadtteilbücherei Göggingen, und Salon-Organisator Kurt Idrizovic von der Buchhandlung am Obstmarkt. Während Liz Moores Krimi „Long Bright River“ alle lobten wurde vor allem der neue, düstere Roman von Bov Bjerg, „Serpentinen“, wurde kontrovers diskutiert. Ein Buch, offenbar wert, den Hamsterkäufen hinzuzufügen. Wirsching sicher dafür: „Eines der besten des Frühjahrs.“ Idrizovic offenkundig dagegen: „Grauenhaft.“ Aber als der dann leidenschaftlich Ian McEwans „Kakerlake“ empfahl, schlug Müller die Hände über dem Kopf zusammen. Anders als bei Nudeln und Klopapier also gilt bei Büchern: Es hamstere keiner blindwütig, sondern jeder mit Bedacht für seinen Geschmack.
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