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Kritik: Premiere der „Ermittlung“ im Schwurgerichtssaal

Kritik

Premiere der „Ermittlung“ im Schwurgerichtssaal

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    Szene aus "Die Ermittlung".
    Szene aus "Die Ermittlung". Foto: Nik Schölzel

    „Normal war das unmittelbare Bevorstehen des eigenen Todes.“ – „Ich persönlich hatte gar nichts gegen diese Leute.“ – „Er aß zuletzt seine Schuhe auf.“ – „Die Menschen waren ineinander verkrallt, die Haut war zerkratzt, viele bluteten aus Nase und Mund.“ – „Wir alle haben nichts als unsere Schuldigkeit getan.“

    Aussagen von Zeugen und Angeklagten aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), wie sie nun über zwei Stunden lang wieder in einem Gerichtssaal zu hören, zu ertragen sind. In einem

    Das Theater Augsburg hat für die Aufführung des dokumentarischen Stücks „Die Ermittlung“ von Peter Weiss die Bühne verlassen. Und einen angemessenen, authentischen, vielleicht den einzig richtigen Ort gefunden für diese notwendige Zumutung: den alten Schwurgerichtssaal im Justizpalast. Dort wurde in den 1950er Jahren auch gegen NS-Verbrecher verhandelt. Das aus Aussagen und Protokollen des Auschwitz-Prozesses meisterhaft montierte und verdichtete Stück, das

    Und was für eine: eine Aufführung, mit der sich das Theater als erste Aufklärungsinstanz beweist. Nicht auf bloße Betroffenheit, sondern auf Erkenntnis zielt diese Erinnerungsarbeit. Manchmal ist die Stille im Saal so aufgeladen, dass man kein Atmen mehr hört. Wohin mit dem, was da ausgesprochen wird? Wegstecken kann man das nicht.

    Die Wucht des Ungeheuerlichen

    Und das ist eine weitere Erfahrung dieses außergewöhnlichen Premierenabends: Auch 46 Jahre nach der Urteilsverkündung in Frankfurt und nach Dekaden der Aufarbeitung des Vernichtungsterrors steckt in der „Ermittlung“ die unmittelbare Wucht des Ungeheuerlichen, das nicht verjähren oder vergehen kann. Gastregisseurin Heike Frank – 2002 bis 2007 Chefdramaturgin am Schauspiel Köln – zeigt mit den hervorragend agierenden vier Schauspielerinnen und vier Schauspielern, wie man dieses Stück, „Konzentrat“ eines Prozesses, das Täter mit Opfern konfrontiert, meisterlich in der Wirkung entfaltet und ihm ja „gerecht“ werden kann.

    Sparsam dosierte Emotion, kein falscher Ton, ständiger Wechsel der Rollen: Frauen spielen Männer, Angeklagte sind im nächsten Moment Zeugen, Opfer oder Anwälte, der, der eben der Richter war, spricht jetzt einen Täter. Dadurch bekommen die Aussagen den Wert einer gleichsam „höheren Wahrheit“, weil es um die Fakten, nicht um Identifikation mit Personen gehen soll.

    Mit dem Einsatz von Videokameras, die von den Schauspielern bedient werden, weitet Frank die Perspektive des Publikums. So sind Akteure in Großaufnahme zu sehen, die den Zuschauern eigentlich den Rücken zukehren. Die Leinwand an der Stirnwand des Saales hinter dem Richterpult ist dezent, aber wirkungsvoll eingesetzt. Das beginnt schon eingangs, wenn dort ein munterer, entlarvender Werbefilm aus der Wirtschaftswunderzeit läuft. Es geht um ein Waschmittel und um Reinheit, um „weiße Westen“. Verdrängen, Verschweigen, „Persilscheine“ ausstellen: Es ist dieser Geist der Nachkriegszeit, auf den Peter Weiss damals traf. Für ihn ist Auschwitz „die Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam“. 1964 hat Peter Weiss den Schreckensort besucht. „Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah“, schreibt er. Zu dieser Zeit hatte er schon mehrfach dem Frankfurter Prozess beigewohnt und Material für ein Stück gesammelt. Aber erst der unmittelbare Eindruck von Auschwitz gab den Anstoß, sein Projekt als „Oratorium in 11 Gesängen“, als Abfolge des Wegs von der Rampe ins Gas zu strukturieren.

    „Die Angeklagten lachen“, heißt es immer wieder im Text. Diese Haltung der Täter, die sich im Auschwitz-Prozess allesamt hinter Ahnungslosigkeit, Ausreden, Befehlen und Dienstpflichten verschanzten, bringt Heike Frank in einer expressiven, verstörenden, albtraumhaften Szene zum Ausdruck. Da wird der Schwurgerichtssaal plötzlich zur Karnevalsbühne, es wird geschunkelt und gesungen, die Angeklagten spielen Richter und verhöhnen Opfer, prustend vor Lachen geht’s weiter im Text: „Wie haben Sie die Häftlinge getötet?“ – „So wie es Vorschrift war . . .“

    Schlussstrich also? Nein. Spielt „Die Ermittlung“ weiter, spielt sie noch 100 Jahre, spielt sie immer.

    Nächste Aufführungen 5., 6., 7., 8., 11., 15., 20., 21., 28., 29. Oktober

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