Es ist doch vollbracht. Corona konnte das im Frühjahr angesetzte Mozartfest 2020 nicht gänzlich stoppen. Jetzt gingen die ersten beiden Konzerte über die Bühne. So verwundert es nicht, dass Simon Pickel, der künstlerische Leiter, beim Auftakt in ev. St. Ulrich aus seiner Erleichterung, ja Euphorie über das Gelingen eines organisatorischen Husarenstreichs keinen Hehl machte. Auch die Akademie für Alte Musik Berlin, „Orchestra in Residence“, strahlte – sie können spielen und taten dies fulminant.
Mit einer biografischen Polarisierung wurde Amade´ zum Festival-Beginn gehuldigt. Am ersten Abend standen Werke des Jugendlichen auf dem Programm, am Tag darauf erklang sein Requiem im Kongress am Park. Das Ausspielen des „Anfängers“ gegen den „Vollendeten“? Nein – Mozart war authentisch. In den Jungwerken klingt das Genie an, im Requiem, dem mysteriösen Torso am Ende seines Lebens, bleiben göttliche Bruchstücke.
Wie sich Mozart bei den Italien-Reisen als Kind/Teenager der Tradition des teils routinierten, teils eigenwilligen Musikschaffens und -geschäfts annäherte, sich das Beste daraus aneignete, war spannend und unterhaltsam zu erleben. „Mozart in Italien“ war ein Festessen für die Akademie. Zwei Sinfonien standen am Anfang und Endes des Programms und sie markierten eine unglaubliche Entwicklung. Die Sinfonie G-Dur KV 74 lässt Vater Leopold und sein Formen-Alphabet durchhören, aber auch dessen Illustrierungsgeschick, Bläserfarben mit Hörner-Jagd-Feeling.
Die Akademie für Alte Musik Berlin zeigt beim Mozartfest bestechende Virtuosität
Dazu passten die Klänge des unorthodoxen Giovanni Battista Martini (1706 - 1784) in dessen Sinfonie a 4 corni und die tänzerische Commedia-dell-arte-Spiellust von Giovanni Battista Sammartini (1700 - 1775) mit dessen Opernouvertüre, Meister, von denen sich Jung-Amade´ unterrichten bzw. inspirieren ließ. Dann also zum Finale des Konzerts die Sinfonie A-Dur KV 201 ein Werk, das die Genialität voll entfaltet. Nur mit Oboen und Hörnern erweitert, erfährt der Orchesterklang subtile Verwandlungen, die Motiv-Strukturen sind keine kompositorischen Pflichtübungen, sondern changieren zu Ausdrucksfiguren, besonders der Schlusssatz mit seinen austarierten dramatischen Attacken ist bewegend. Die Akademie zeigte mit ihrem historisch orientierten, vibrierenden Klang bestechende Virtuosität, wie auch in den Wirbeln des Divertimento KV 136.
Eine andere Welt, aber immer noch Mozarts Welt, wurde am folgenden Tag im zweiten Konzert zum Klingen gebracht. Im Kongress am Park waren dafür geradezu spektakuläre bühnentechnische Umbaumaßnahmen getätigt worden, um die Aufführung des Requiem KV 626 in diesen Zeiten möglich zu machen, den Platz für die Sänger des Chors des Bayerischen Rundfunks und für die um viel Instrumentarium vergrößerte Akademie für Alte Musik zu schaffen. Fast die Hälfte des Parketts musste für ein mächtig vorgeschobenes Podium nach hinten weichen – indes bei aller Notlage ein durchaus imponierendes und ungewöhnliches Bild der weit gefächerten Musiker-Phalanx, ein, wenn man so will, fast symbolisches Zeichen für die Macht, die der Musik zusteht.
Im Kongress am Park tritt der Chor des Bayerischen Rundfunks auf
Diese Aufführung des Mozart’schen Requiems, das stets im Zeichen nach der Frage der Fassung der unvollendeten Totenmesse steht, bescherte ein besonderes Erlebnis. Sie stammt von Howard Arman, Komponist und Leiter des BR-Chors. Der vielfach mit Preisen geehrte Brite befasste sich 15 Jahre lang mit dieser Herausforderung, denn vollendet sind nur „Requiem“ und „Kyrie“. Aus verbliebenen Skizzen, harmoniegebenden Generalbassnotierungen, angedeuteter Orchestrierung vollzog Arman Mozart’schen Duktus nach, immer mit großem Respekt vor der Unmöglichkeit, Mozart „ersetzen“ zu wollen. Spektakulär ist die Komposition einer „Amen“-Fuge nach dem abbrechenden „Lacrimosa“, die Arman dem typischen Verlauf einer anderem geistlichen Mozart-Fuge nachempfand. Das Ergebnis, das auch als CD vorliegt, beeindruckt.
Die Instrumentierung schärft überzeugend wichtige, die Texte beleuchtende Klangvaleurs. Süßmayers Ergänzungen ließ Arman unangetastet. Anschließend wurde man Zeuge einer aufregenden Neuentdeckung. Das liturgisch wichtige „Libera me“ fehlt bei Mozart. Sigismund Ritter von Neukomm (1778 - 1858), ein abenteuerliches Musiker-Original, komponierte dieses Stück und brachte, oft unter Verwendung Mozart’scher Requiem-Passagen, eine eigene Requiem-Version zustande, teils in einer Klangsprache, die an Beethoven oder Cherubini erinnert. Ein ungewöhnliches, aber hörenswertes Unterfangen. Mit der fulminant aufspielenden Akademie, den fantastischen Klangwundern des BR-Chors sowie den glänzenden Solisten Christina Landshamer (Sopran), Sophie Harmsen (Alt), Julian Prégardien (Tenor) und Matthias Winckhler (Bass) kam eine umjubelte Aufführung dieses großen Mozart-Komplexes zustande.
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