Manche Debatten nerven, und die vier Teilnehmer der Talkrunde „Neue Solidaritäten oder jüdisch-muslimische Leitkultur?“ im Abraxas sind sich sicher: Das Gerede von der Leitkultur, die ohne deutschnationale Folklore nicht zu denken sei, und die penetrante Forderung, sich zu integrieren, gehören dazu. „Integration“ in Deutschland sei das Gegenteil von Multikulti, sie sei ein Kampfbegriff. Sie lasse keinen Raum für das Eigene, könne erst recht die radikale Fixierung auf die eigene Herkunft und damit Abschottung auslösen. Integration entspreche dem deutschen Wunsch nach Harmonie, und die setze größtmögliche Einheitlichkeit voraus.
Vor 70 Zuschauern diskutierte auf dem Podium im Rahmen der „Ersten Augsburger Desintegrationstage“ der jüdische Schriftsteller Max Czollek, Autor von „Desintegriert euch!“ und Hauptakteur des Programms, das vom Abraxas und dem Jüdischem Museum verantwortet wurde. Außerdem Mirna Funk, ebenfalls deutsch-jüdische Autorin, Tülay Ates-Brunner, Geschäftsführerin von Tür an Tür in Augsburg, und Alexander Ratschinskij, Poetry-Slammer und Organisator des Taubenschlag-Programms während des Friedensfestes.
Eher ein lockererer Umgang mit den Identitäten führe zu Empathie. Mirna Funks erlebte die Frage eines libanesisch-berlinerischen Taxifahrers nach ihrer Herkunft als stimmig, nicht übergriffig: „Ostberlin reichte ihm nicht. Am Ende sagte ich: Israel, Jüdin. Er so: Ah, dann sind wir Cousin und Cousine.“ Zuschreibungen sind also möglich – wenn sie positiv sind. Auch Tülay Ates-Brunner sah sich plötzlich zu etwas geformt, als das sie sich nie gesehen hatte: Die Islamdebatten machten sie erst zur Fünf-Säulen-Muslimin und Erdogan-Expertin.
Schwierig, das mit den Kategorien. Die Diskutanten samt Moderator Can Gülcü wehren sich gegen sie, kommen aber selbst auch kaum ohne aus. Mit Luft-Gänsefüßchen fordern sie die Abschaffung von „Migrationshintergrund“, „jüdische Community“, „deutschdeutsch“, nutzen die Schubladen aber gleichzeitig affirmativ auch für sich selbst. Radikal treibt Max Czolleks Vision neuer jüdisch-muslimischer Allianzen noch eine neue Kategorie dazwischen: Juden brechen aus der ihnen zugewiesenen Holocaustopfer-Schublade aus und solidarisieren sich mit Muslimen. „Mit denen sitzen wir bei Beschneidung und Schächtung ohnehin im selben öffentlichen Dampfdrucktopf“, erklärt er. Er will der deutschen Harmoniesucht eine sicht- und hörbare „radikale Vielfalt“ entgegenhalten. Im Dienst der offenen Gesellschaft. Wohl im Hinterkopf, dass es in allen Gruppen, auch unter „den Muslimen“, welche gibt, mit denen man nicht an einem Tisch sitzen will, ergänzt er: „Die Grenzen werden vom Grundgesetz und der garantierten Freiheit der anderen gesetzt.“ Einer Zuschauerin, die über die Kollision von Grundrechten bei der Beschneidung diskutieren wollte, zeigte er entnervt die Grenze: „Nicht mein Thema.“