Einen Tag, bevor sie ins Konzentrationslager deportiert werden sollten, am 7. März 1943, nahmen sich Selma und Ludwig Friedmann das Leben. Einst angesehene Inhaber einer Augsburger Wäsche- und Bekleidungsfabrik, Bewohner einer repräsentativen 7-Zimmer-Wohnung in der Hallstraße mit großer Bibliothek und Flügel im Wohnzimmer, lebte das Ehepaar zuletzt in einem Zimmer im sogenannten „Judenhaus“ in der Bahnhofstraße.
Emma und Eugen Oberdorfer dagegen wurden deportiert. Ins Konzentrationslager Auschwitz, wo sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet wurden. 50 Reichsmark mussten sie für die Fahrt in den Tod noch bezahlen. Auch sie wurden von den Nationalsozialisten erst ausgegrenzt, dann enteignet und verfolgt.
Selma und Ludwig Friedmann, Emma und Eugen Oberländer sind die Großeltern von Miriam Friedmann. In den USA geboren und aufgewachsen, lebt sie seit 2001 in der Heimat ihrer Vorfahren. Dass die jüdischen Familien Opfer der Nazis wurden, darüber schwieg ihr Vater Prof. Fritz Friedmann, der mit seiner Frau Elisabeth rechtzeitig in die USA fliehen konnte, zunächst, weil er seinen Kindern die Grausamkeit dieses Schicksals ersparen wollte. Aber durch Zufall entdeckten sie und ihr Bruder im Arbeitszimmer des Vaters Unterlagen über die Geschichte ihrer Familie.
Als Patrioten und erfolgreiche Geschäftsleute fühlten sie sich sicher
Die ist nun Thema des Dokumentarfilms „Die Stille schreit“, der an diesem Sonntag in Augsburg Premiere hat und als Voraufführung bereits zur Eröffnung der Jüdischen Filmtage in München gezeigt wurde. Josef Pröll, Sohn des KZ-Überlebenden Josef Pröll und der Augsburger Widerstandskämpferin Anna Pröll, hat daran vier Jahre lang zusammen mit Miriam Friedmann, deren Mann Friedhelm Katzenmeier und dem Historiker Bernhard Lehmann gearbeitet. Das Ergebnis ist ein ebenso sachlicher wie berührender Film, der in vielen Details die systematische Enteignung deutscher Juden am Beispiel der Großeltern Miriam Friedmanns nachzeichnet. Wie sie sich als Patrioten und erfolgreiche Geschäftsleute sicher gefühlt hatten vor den Nationalsozialisten, dann aber wegen ihrer jüdischen Herkunft Opfer der „Arisierung“ eines Regimes wurden, das seine Verbrechen ganz legal, selbstverständlich und systematisch beging.
Genau das ist es, was Josef Pröll auch nach vielen Jahren der Beschäftigung mit den Untaten der Nationalsozialisten immer noch erschüttert. Als Autor, Filmemacher und Referent der KZ-Gedenkstätte Dachau engagiert sich der 1953 geborene Pröll für die Erinnerungsarbeit. Aufsehen erregte er mit dem Film „Anna, ich hab Angst um dich“ über das Leben seiner Mutter. Praktisch hineingeboren sei er in dieses Thema, sagt Proll, und manchmal ist er nicht glücklich darüber, dass er nicht mehr loskommt davon. Deshalb lehnte er Miriam Friedmanns Anfrage, ob er nicht auch die Geschichte ihrer Familie in einem Film darstellen wolle, zunächst ab. Doch letztendlich konnte ihn die 78-Jährige überzeugen, und angesichts der Intensität der Arbeit hat Pröll dies nicht bereut. „Ganz oft bin ich mit den Gedanken an den Film abends eingeschlafen und in der Früh wieder aufgewacht.“
Die privaten Fotos, Filmaufnahmen aus jener Zeit, historischen Dokumente und Interviews, die Josef Pröll und das Ehepaar Friedmann/Katzenmeier bei ihren Recherchen gefunden haben, hat der Filmemacher zu einer eindrücklichen Dokumentation menschlichen Unrechts zusammengestellt. Bemüht habe er sich dabei um Sachlichkeit und die authentische Wiedergabe der Fakten, betont Pröll. „Die Betroffenheit ergibt sich durch das Thema von selbst“, weiß er. Wenn dadurch Fragen entstehen und die Motivation, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sieht er sein Ziel erreicht.
Die Gründer der Firma wurden beim Jubiläum mit keinem Wort erwähnt
„Wie ein Mosaik“ habe sich der Film aus Bruchstücken entwickelt. Eines davon ist ein Foto der Schirmmanufaktur der Oberdorfers in der Maximilianstraße. 1862 wurde sie vom Urgroßvater Miriam Friedmanns gegründet, 1938 „arisiert“ und von der Familie Hoffmann „übernommen“. Als das Unternehmen 1962 Firmenjubiläum feierte, gratulierte die IHK der Inhaberin Wilhelmine Hoffmann zur 100-jährigen Geschichte. Mit keinem Wort wurden dabei deren Gründer erwähnt. Auch heute gebe es an dem nach der Zerstörung neu aufgebauten Gebäude in der Maximilanstraße keinen Hinweis auf die Familie Oberdorfer. „Deshalb heißt der Film ,Die Stille schreit’“, sagt Josef Pröll. Überall in der Stadt gebe es noch Orte, die auf das Unrecht der Nationalsozialisten hinwiesen, „aber in unserer Stadtgesellschaft existieren sie nicht“.