Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten
Feuilleton regional
Icon Pfeil nach unten

Musik: Ein Jahr Detektivarbeit: Hans Ganser erforscht alte Musik-Noten

Musik

Ein Jahr Detektivarbeit: Hans Ganser erforscht alte Musik-Noten

    • |
    So schaut das Fragment „Confitebor tibi“ aus, das Hans Ganser nicht nur transkribiert, sondern auch auf der CD eingesungen hat (die beiden ersten Zeilen des Fragments).
    So schaut das Fragment „Confitebor tibi“ aus, das Hans Ganser nicht nur transkribiert, sondern auch auf der CD eingesungen hat (die beiden ersten Zeilen des Fragments). Foto: Hans Ganser

    Recycling gibt es schon viel länger als die gelben Tonnen. Manchmal führt das zu glücklichen Zufällen der besonderen Art: Im frühen 17. Jahrhundert wurden im Heilig-Geist-Spital Blaubeuren Notenblätter von damals 150 Jahre alten Choralhandschriften als Einband von Rechnungs- und Lagerbücher der Spitalverwaltung wiederverwendet – ein geglücktes Zusammenspiel von Kunst und Ökonomie, ganz im Gegensatz zur Gegenwart. Dadurch konnte anno 2020 der Augsburger Mittelalter-Spezialist und Sänger Hans Ganser eruieren, was wohl im Spital zu seiner Entstehungszeit vor 600 Jahren musiziert wurde. Am Ende seiner einjährigen Forschungsarbeit stand die Einspielung „In Gottes Namen fahren wir“, benannt nach dem alten Pilgerlied, das schon im 13. Jahrhundert in dem Versroman „Tristan“ des Gottfried von Straßburg erwähnt wird und das die CD eröffnet.

    Der Grund für das Recyceln der mittelalterlichen Notenhandschriften damals war ihre Wertigkeit: Sie bestanden aus Pergament, ein wertvolles Material, das zum Wegwerfen zu schade war. Doch gebraucht wurden die Noten nicht mehr, da sie entweder – buchstäblich oder den Inhalt betreffend – abgenutzt waren, vielleicht auch, da sie nach der Reformation im evangelisch-lutherischen Gottesdienst nicht gebraucht wurden. Als so genannte Einbandmakulatur bestanden sie zumindest in Teilen fort und erzählen heute ihre Historie dem, der sie wie Hans Ganser zu lesen versteht.

    Das Heilig-Geist-Spital in Blaubeuren ist 600 Jahre alt

    Der Spezialist für Alte Musik fand heraus, dass sie wohl aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, aus dem Heilig-Geist-Spital Blaubeuren stammen und dort auch hergestellt wurden. Sogar mehrstimmig soll die Musik bereits gewesen sein, hochmodern zu dieser Zeit.

    Der Grund für Gansers Forschen war das 600-jährige Jubiläum des Heilig-Geist-Spitals in Blaubeuren: 1420 rief der gebürtige Blaubeurer und Geistliche Hans Russ eine Stiftung ins Leben und legte so den Grundstein. Russ hatte eine erfolgreiche geistliche Karriere hinter sich und starb um 1428 in Konstanz als Generalvikar, also Stellvertreter des Bischofs. Blaubeuren blieb er aber verbunden und spendete „seinem“ Spital nicht nur viel Geld (durchaus mit Eigennutz, denn es sollte für sein Seelenheil gebetet werden) sondern brachte aus der bedeutenden Reichsstadt sicherlich auch gute, sprich: frühe mehrstimmige Musik mit.

    Hans Ganser ist Sänger und Spezialist für Alte Musik.
    Hans Ganser ist Sänger und Spezialist für Alte Musik. Foto: privat

    Andere reiche Bürger zahlten ebenfalls ins Spital ein, vornehmlich, um sich einen Altersplatz zu sichern. Denn das Spital stand nicht nur Pilgern und Armen offen, sondern auch den Älteren, und in der „Pfründnerstube“ des Spitals, dem Aufenthaltsraum der Senioren, wurde gekartelt (mit den neumodischen Karten), geratscht und garantiert auch musiziert, erzählt Hans Ganser.

    Dem urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren ist Hans Ganser seit langem verbunden

    Dem heutigen Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, dem auch das Spital zugehört, ist der 67-Jährige seit langem verbunden und so nahm er gerne die Anfrage an, für den Jubiläumsband des Museums einen Beitrag zur „Liturgie und Musik des 15. Jahrhunderts im Heilig-Geist-Spital“ zu schreiben. Das bedeutete zwar viel und regelrecht detektivische Arbeit (Hans Ganser musste Bibliotheken durchforsten, Fragmente sichern, sichten, ordnen, identifizieren, ergänzen, in Partitur schreiben), die durch Handschriftenfunde in Russ’ Wahlheimat Konstanz noch zusätzlich erweitert wurde, aber diese Mühen wurden durch die Reichhaltigkeit der Resultate belohnt.

    So entdeckte Hans Ganser unter den Fragmenten in Blaubeuren den Introitus (Einleitungsgesang) „Suscepimus deus“ oder das Responsorium (geistlicher Gesang zum Stundengebet) „Confitebor tibi domine“, beide sind auf der Einspielung zu hören. Die Idee zur CD kam Hans Ganser auf einer Fahrradtour: Warum nach so langer Recherchearbeit nicht aufnehmen, was in den Anfangsjahren des Spitals vermutlich musiziert wurde?

    Die Aufnahmen für das CD Projekt "In Gottes Namen fahren wir" sind in den Pfingstferien entstanden

    Hans Ganser, der das CD-Projekt selbst finanzierte, stellte das Ensemble zusammen und ein ausgewähltes Programm aus geistlichen und weltlichen, vokalen und instrumentalen Stücken, Pilgerliedern, gregorianischen Gesängen, dazu Improvisationen im Stile der damaligen Zeit (von Maria Wegner an diversen Längsflöten). Es spielt das Karolus-Magnus-Ensemble, darunter Hans Ganser als Leiter und Sänger (ebenfalls mit Gesang dabei Raphael Kestler und Johannes Ganser), allesamt Spezialisten des Mittelalters auf damals typischen, bisweilen pittoresken Instrumenten: so das konische Türmerhorn in diversen Größen mit signalhaftem Ton, versiert gemeistert von Jochen Immesberger und Franz Schüssele, oder das harfige Clavicytherium, ein mittelalterliches Tasteninstrument mit aufrechtem Korpus, Vorfahr des Cembalos und bereits im 14. Jahrhundert gebräuchlich (an den Tasten: Alte-Musik-Experte Michael Eberth).

    Die Aufnahmen fanden zwischen den Lockdowns während der Pfingstferien in Augsburg und in Blaubeuren statt. Dabei stellte sich der dortige Seminarmusiklehrer Jan Liermann als Mittelaltermusik-erfahren heraus und wurde kurzerhand als Glockenspieler ins Ensemble integriert. Auf dem Cover der CD „In Gottes Namen fahren wir“ ist ein Pilger zu sehen, halb von einer Tür versteckt, der auf den großartigen Wandmalereien der früheren Spitalskapelle aus der Gründungszeit zu finden ist.

    Für Hans Ganser ist diese CD ein ganz besonderes Projekt – und gleichzeitig ein bisschen Abschied vom Sängerberuf, erklärt er, weil er aus Altersgründen vorhat, in der Zukunft nicht mehr öffentlich aufzutreten. Der nächste Besuch in Blaubeuren steht allerdings schon fest – die Frühgeschichte der Menschheit fasziniert ihn. Und das Schöne daran: Sie ist eng mit Musik verbunden.

    CD „In Gottes Namen fahren wir“ ist erhältlich im Shop des urgeschichtlichen Museums Blaubeuren.

    Das könnte Sie auch interessieren:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden