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Kulturgeschichte: Diese Seuche raffte auch gekrönte Häupter dahin

Kulturgeschichte

Diese Seuche raffte auch gekrönte Häupter dahin

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    Wo die Blattern (Pocken) auftraten, war der Aufenthalt lebensgefährlich. Das Warnschild aus der heimatkundlichen Sammlung Wiggensbach entstand vermutlich 1833, als im benachbarten Altusried die Pocken wieder ausbrachen.
    Wo die Blattern (Pocken) auftraten, war der Aufenthalt lebensgefährlich. Das Warnschild aus der heimatkundlichen Sammlung Wiggensbach entstand vermutlich 1833, als im benachbarten Altusried die Pocken wieder ausbrachen. Foto: Wolfgang Petz

    Diese Seuche verschonte niemanden – nicht den Häusler in der schlammigen Vorstadt, nicht den Kaufmann in der gepflasterten Oberstadt, auch nicht den Kaiser. „Der Pest konnte man bei Hofe mit Quarantänemaßnahmen ausweichen, den Pocken nicht“, sagt Prof. Regina Dauser vom Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Augsburg. In der Ringvorlesung „Geißeln der Menschheit“ beschäftigte sich die Historikerin mit den Pocken und den Anfängen der europäischen Impfdebatte im Zeitalter der Aufklärung.

    Die „Blattern“, wie man sie volkstümlich wegen der entzündlichen Bläschen auf der Haut der Erkrankten nannte, war die Seuche des 18. Jahrhunderts. Sie wütete in ganz Europa und kehrte in Schüben immer wieder. Im Heiligen Römischen Reich forderten die Pocken jährlich bis zu 70.000 Todesopfer – rund zehn Prozent aller Todesfälle auf dem Kontinent. Die Pocken konnten in jedem Lebensalter ausbrechen und gefährdeten jeglichen Stand. Wer sie überlebte, war zeitlebens gezeichnet. Pockennarbige Gesichter kennzeichnen die Porträts der Zeit. Aber auch Taubheit, Blindheit und Lähmung konnte das heimtückische Variola-Virus bei den Befallenen hinterlassen.

    Der Habsburger Kaiser Joseph I. glaubte sich schon über dem Berg

    Namhafte Herrscher wurden von den Pocken dahingerafft. Der junge Habsburger Kaiser Joseph I. glaubte sich bereits über dem Berg, als sich am 9. April 1711 erneut die Pusteln auf seiner Haut zeigten. Eine Woche später glühte er vor Fieber, am 17. des Monats starb er. Die Regentschaft trat Kaiserin Maria Theresia an, die ihrerseits sechs Kinder infolge der Pocken vorzeitig zu Grabe tragen musste. Nicht besser erging es dem französischen Bourbonen-Hof. Der älteste Sohn des Sonnenkönigs Ludwig XIV. starb 1711 an den Pocken. Sein Enkel Ludwig XV. überlebte zwar 1757 ein Attentat, doch der, der sich als unverwundbar wähnte, infizierte sich am 29. April 1774 und starb am 10. Mai. „Weil sich nicht einmal die Privilegiertesten schützen konnten, rief die Seuche in ganz Europa Grauen hervor“, weiß Regina Dauser.

    Die ärztliche Kunst der Epoche versagte vor den Pocken, medizinische Behandlungen etwa mit Aderlässen und Wundumschlägen brachten kaum Heilung. Abhilfe versprach ein Wissenstransfer aus dem Orient. Ab 1714 berichteten Ärzte aus dem Osmanischen Reich von erfolgreichen Pockenbehandlungen. Zur Popularisierung des Wissens trug vor allem Lady Mary Wortley Montagu bei, die als Gattin des englischen Botschafters die osmanische Kultur wissbegierig aufnahm. 1817 berichtete die Publizistin in einem Brief begeistert von der Methode der Inokulation von Pockenerregern in die Haut von Gesunden, um sie zu immunisieren. King George erlaubte, zur Probe fünf Todeskandidaten zu impfen und dann auch Waisenkinder. 1722 ließ man schon Mitglieder des Königshauses impfen.

    Immanuel Kant fragt: Darf man über das Leben anderer entscheiden?

    Doch mit dem Fortschritt in der Seuchenbekämpfung regte sich alsbald der Widerstand gegen eine Einpropfung von Blatternsekret. Schon 1725 erschien die Verteidigungsschrift des Briten Maitland zugunsten der Methode in deutscher Übersetzung. Die Kritik lautete, die Impfung bringe Gesunde in Todesgefahr. Immanuel Kant bemühte die Ethik: Dürfe man über das Leben anderer überhaupt entscheiden?

    Tatsächlich, so Regina Dauser, war die Inokulation oder Variolation nicht ohne Risiko. „Zwei bis drei Prozent der Impfungen nahmen einen tödlichen Ausgang.“ Es kam zu Verwechslungen mit Syphilis-Ausschlägen. Die mangelnde Hygiene in den Arztpraxen tat ein Übriges. Einige Theologen zeterten, man versuche hier, der göttlichen Vorsehung vorzugreifen; andere dagegen verteidigten die Variolation als Beitrag, Erkrankungen zu vermeiden. So sich die Familien die kostspielige Impfung finanziell leisten konnten. Der daraus folgende soziale Protest hielt sich bis ins 19. Jahrhundert.

    Das Königreich Bayern erließ 1807 eine Impfpflicht gegen die Pocken

    Dennoch nahm die Inokulation ab Mitte des 18. Jahrhunderts an Fahrt auf. Die Obrigkeiten unterstützten sie für ihre Untertanen. Statistiken und Fallgeschichten untermauerten die Erfolge der Immunisierung. Das Churbaierische Intelligenzblatt meldete im Jahr 1767, dass 9000 Impfungen „ohne einen Todesfall“ verlaufen seien. Einen entscheidenden Fortschritt trug die Beobachtung ein, dass Melker sehr selten an den Pocken erkrankten. In Berührung mit den Kuhpocken entwickelten sie Resistenz gegen den Erreger. Aus der Variolation mit menschlichem Erregergut wurde die Vakzination mit den Kuhpocken. 1799 wurde sie erstmals in Wien vorgenommen, das Königreich Bayern erließ bereits 1807 eine Impfpflicht.

    Die Kritik verstummte trotzdem nicht, zumal auch im 19. Jahrhundert regionenweise die Pocken grassierten. Ehe sich 1874 die Erkenntnis durchsetzte, dass die Vakzination wiederholt werden müsse, um dauerhaften Schutz zu garantieren.

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