Ralf vorm Fernseher, die Chipstüte auf dem Schoß. Wie paralysiert lauscht er nicht nur der Castingshow. In seinem Körper zetern Magen, Herz und Nervenleitbahnen um die Wette: Gemüt an Großhirn: „Das Fitnessstudio war deine Idee, heul!“ Magen an Finger: „Sofort Pizzaservice rufen, Pizza mit allem! Ich bin leer!“ Großhirn: „Nix da. Beine: Bewegung! Und Finger: Weg vom Telefon!“ So geht das hin und her. Auf Bayerisch, Ostfriesich, Württembergisch. Ein Seelenleben aus der Perspektive der Organe aufzurollen – das trieb schon vor dreißig Jahren Otto Waalkes bis zur Perfektion. Und es funktioniert auch in dem Stück „All you can eat“, der neuesten Produktion des Theaterpädagogischen Zentrums (TPZ) des Jungen Theaters Augsburg.
Der Bauch wächst auf Rucksackgröße
Darin geht es um einen jungen Mann, dessen Freundin Jacqueline sich vor drei Monaten von ihm getrennt hat. Er isst mit Frust, die Selbstachtung sinkt auf Null, der Bauch wächst auf Rucksackgröße. Mitbewohnerin Rita (Pascale Roppel) rät zum Fitnessstudio. Und da steht sie, die Blonde auf dem Stepper. Zu fetziger Musik legt Ralf (Matthias Guggenberger) sich ins Zeug. Erst reicht es nur für eine halbe Liegestütze – in Zeitlupe. Ralf setzt sich unter Druck, hetzt durch sein Vorhaben. Nach drei Monaten Laufbandhecheln und Bankdrücken sind es acht Liegestützen mit Zwischenklatscher, der Bauch ist weg. Doch sein eigentliches Ziel, die Blonde, erreicht er nicht. Und Ralf begibt sich mit der Chipstüte aufs Sofa, steht ab und zu auf, ruft den Pizzaservice an.
Im Kopf von Ursel (Pascale Roppel) dagegen duellieren sich Engel und Teufel (beides Matthias Guggenberger). Die eine Stimme mahnt zu Yoga, Schwimmen, Marathon, die andere zum Kühlschrank. Gegen den Stress. Beinah mephistophelisch raunt der Teufel: „Komm, du willst es doch auch, Baby, nur du, ich und die Gyrosplatte!“ Und weil sie aber geliebt werden will, legt sie den Rückwärtsgang ein: Erbrechen.
Es ist ein temporeiches, dramatisches und doch heiteres Stück, mit dem sich das TPZ unter der Leitung von Volker Stöhr an das Thema Essstörungen wagt. Zum Konzept gehört ein optionaler Workshop mit den Schülern (ab der 7. Jahrgangsstufe), an dem sich Diabetes-Ärzte und die Beratungsstelle Schneewittchen beteiligen. Wie das gesamte Repertoire über Mobbing, Sex, Radikalisierung, Flucht ist auch diese TPZ-Inszenierung auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum und legt die oft verschlossenen Innenleben (nicht nur) junger Menschen frei. Die spielerische Leichtigkeit des Stückes verdankt sich nicht zuletzt Detlef Winterberg, dem bekannten Comedian aus dem „Quatsch Comedy Club“, der Regie geführt sowie einen Großteil des Textes beigetragen hat.
Wie fühlt sich Mobbing an?
Jugendsprech-, professionelle Comedy-, Musik- und Tanzsequenzen machen seit zehn Jahren den Markenkern des TPZ aus. Mit dieser Mischung erreichten die Stücke und Workshops allein im letzten Jahr 4894 Schüler, darunter 3760 mit „Krass“, einem Präventionsstück gegen islamistische Radikalisierung. Wie fühlt sich Mobbing an? Was passiert, wenn durch einen Tritt gegen den Kopf ein Mitschüler ins Koma fällt? Wie wird aus Computerspielen oder Essen eine Sucht? „Wenn Kinder solche Fragen kreativ angehen können, entdecken sie auch die Antworten selbst. Die Kinder stark gemacht zu haben – das wäre der eigentliche Erfolg unserer Arbeit“, betont Stöhr. Er fordert, ein gut organisiertes stadtweites Netzwerk aller unabhängigen Institutionen, die im Präventivbereich tätig sind, aufzubauen, um bei Bedarf schneller reagieren zu können. Das Interesse an den Angeboten des TPZ zeigt, dass der Bedarf an solch alternativer Kulturarbeit steigt.
Gastspiele Anfragen für Auftritte in Schulen unter wwwjt-augsburg.de