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Augsburg: Literatur in der NS-Zeit: Bibliothek der verbrannten Bücher wächst

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Literatur in der NS-Zeit: Bibliothek der verbrannten Bücher wächst

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    Deutliche Brandspuren zeigt diese Erstausgabe von Franz Rosenzweigs Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“. Der jüdische Philosoph war bis zur Schenkung dieses besonderen Bandes nicht vertreten in der Salzmann-Sammlung der verbrannten Bücher in der Universitätsbibliothek Augsburg.
    Deutliche Brandspuren zeigt diese Erstausgabe von Franz Rosenzweigs Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“. Der jüdische Philosoph war bis zur Schenkung dieses besonderen Bandes nicht vertreten in der Salzmann-Sammlung der verbrannten Bücher in der Universitätsbibliothek Augsburg. Foto: Universität Augsburg

    Das Buch trägt deutlich alte Brandspuren am Einband. Lag es in einem Scheiterhaufen der nationalsozialistischen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 oder nahm es am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht Schaden? Eindeutig lässt sich nicht mehr feststellen, wovon diese Erstausgabe von Franz Rosenzweigs philosophischem Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“ von 1921 versehrt wurde. Auf jeden Fall passt sie bestens in die „Bibliothek der verbrannten Bücher“, eine weltweit einmalige Sammlung in der Universitätsbibliothek Augsburg.

    Die Erstausgabe, die jüngst den Bestand anreicherte, ist eine Schenkung von Jens Soentgen, dem Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt. Er hat sie in einem Heilbronner Antiquariat gekauft – „leicht beschädigt“, hieß es. „Deutlich ist zu sehen, dass dieses Buch in einer brennenden Bibliothek gestanden ist“, sagt Soentgen. Seine Frau habe ihm dann geraten, diese besondere Erstausgabe der Unibibliothek für die Sammlung der verbrannten Bücher zu überlassen.

    Fünf Jahre vor Martin Heidegger hat Franz Rosenzweig die Existenzphilosophie formuliert

    Als Philosoph weiß Jens Soentgen auch den inhaltlichen Wert der Abhandlung zu schätzen. Der jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig (1886–1926) formulierte im „Stern der Erlösung“ neuartige Gedanken, die zum Kern der Existenzphilosophie wurden, etwa das „Geworfensein“ des Menschen in die Zeitlichkeit. Bis heute werden diese jedoch überwiegend Martin Heidegger zugeordnet, dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“ jedoch erst fünf Jahre nach Rosenzweigs Werk erschien. Walter Benjamin nannte das Buch, als es erschien, ein philosophisches Jahrhundertwerk.

    Dr. Jens Soentgen, Leiter Wissenschaftszentrum Umwelt, schenkte der Universitätsbibliothek die besondere Erstausgabe.
    Dr. Jens Soentgen, Leiter Wissenschaftszentrum Umwelt, schenkte der Universitätsbibliothek die besondere Erstausgabe. Foto: Annette Zoepf

    „Er wird gelegentlich erwähnt, noch seltener gelesen und ist fast vergessen – ganz im Gegensatz zu Heidegger, der sich Anfang der 1930er Jahre begeistert für den NS-Staat engagierte“, erklärt Soentgen. „Das ist eine von vielen verdeckten Spätwirkungen des Nationalsozialismus, eine Schande.“ Rosenzweig geht dezidiert von seinen jüdischen Quellen aus, der Umschlag zeigt den Davidstern. Als Denker müsse er endlich wiederentdeckt werden.

    Georg P. Salzmann trug 14.500 Bände für die Bibliothek der verbrannten Bücher zusammen

    Die Bibliothek der verbrannten Bücher hat der Kaufmann Georg P. Salzmann (1929–2013) in Jahrzehnten gezielt zusammengetragen. Die verfemten Bücher wurden seine Lebensaufgabe und sein Vermächtnis. Etwa 14.500 Bände stapelte er in seinem Haus in Gräfelfing. Im Jahr 2009 übertrug er rund 12.000 Bände an die Universitätsbibliothek Augsburg. Dort wurde die Sammlung erstmals umfassend erschlossen und katalogisiert. Rund 8800 Titel von über 300 Autorinnen und Autoren, die im nationalsozialistischen Deutschland verboten oder geächtet waren, stehen jedermann frei zum Blättern und Lesen zur Verfügung. In der Teilbibliothek Geisteswissenschaften wurde 2010 für sie ein eigener Sonderleseraum eingerichtet.

    Salzmann kaufte vor allem Erstausgaben. Von circa 40 Autoren sind diese vollständig oder nahezu komplett vorhanden. Nach 2009 führte die Universitätsbibliothek das Werk Salzmanns fort und erwarb 900 weitere, noch fehlende Erstausgaben, darunter Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“ von 1942. „Die Entscheidung, eine solche Büchersammlung fortzuführen oder als abgeschlossen im Istzustand zu belassen, ist für Bibliothekare schwierig und folgenreich“, weiß Andrea Voß.

    Systematisch werden Lücken der Sammlung geschlossen

    Die Bibliothekarin betreut seit 2018 die Sammlung und hat systematische Recherchen vorgenommen, wo noch Lücken zu schließen wären, vor allem bei vergessenen Autorinnen und Autoren. „Wollen wir die Sammlung museal bewahren oder lebendig wachsen und sich weiterentwickeln lassen?“ Das Lebendige und Offene passe eher zum Wunsch des Sammlers Salzmann, entschied die Uni. „Neue Bände bringen auch neue Perspektiven, unentdeckte Texte und andere Blickwinkel in die Sammlung“, sagt Andrea Voß. Auf dem Antiquariatsmarkt seien Erstausgaben heute jedoch zu einem erschwinglichen Preis schwer zu bekommen.

    Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ sei allerdings eine absolute Ausnahme. Georg Salzmann sammelte in erster Linie literarische Texte und hatte eindeutig Lieblingsautoren wie Stefan Zweig. Bei der thematischen Eingrenzung sollte es auch bleiben, findet Andrea Voß. Sie erwartet schon den Zeitpunkt, dass die Gymnasien wieder W- und P-Seminare in der Bibliothek der verbrannten Bücher abhalten. Zu Jahresende plant sie außerdem eine Ausstellung. Es brauche immer wieder Impulse, um das Interesse an diesen Büchern zu wecken.

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