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Augsburg: Ernst Cramer: Vor den Nazis geflohen, später an Axel Springers Seite

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Ernst Cramer: Vor den Nazis geflohen, später an Axel Springers Seite

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    Vor dem Springer-Verlag in Berlin: Ernst Cramer (links) mit US-Präsident Ronald Reagan und dessen Frau Nancy.
    Vor dem Springer-Verlag in Berlin: Ernst Cramer (links) mit US-Präsident Ronald Reagan und dessen Frau Nancy. Foto: Unternehmensarchiv Axel Springer

    Es ist ein kleines Metallschild. Drei Namen stehen darauf: Martin Cramer, Clara Cramer, Erwin Cramer. An dem gutbürgerlichen Wohnhaus in der Augsburger Prinzregentenstraße 9 erinnert das Schild, Erinnerungsband genannt, an eine jüdische Familie, die hier einst gelebt hat und deren Leben gewaltsam beendet wurde. In der Karwoche 1942 deportierte die Nazipolizei die drei Cramers, Vater, Mutter und den jungen Sohn, in die Vernichtungslager im Osten Polens, wo sie ums Leben kamen. Dem ältesten Sohn Ernst und seiner Schwester Helene war die Flucht gelungen.

    An diesem Wintertag, als eine Gruppe von Augsburgern das Erinnerungsband aufstellt, ist Ernst Cramer (1913–2010) auch irgendwie mit dabei, obwohl er vor zehn Jahren gestorben ist. Seine Kinder Tom Cramer und Claire Jebsen sowie zwei Enkelinnen sind aus Norwegen und Amerika nach Augsburg gekommen, sie haben das Erinnerungsband gestiftet und sie erzählen von ihrem Vater und Großvater. Davon, wie der Ältere an seinem jüngeren Bruder hing, wie er sich Vorwürfe machte, dass er den Jüngeren nicht retten konnte, wie er dessen letzte Äußerung vor der Deportation in der Familie weitergab. „Clothilde, bet’ für uns!“, soll Erwin Cramer, Ernsts kleiner Bruder, der Köchin der Familie zugerufen haben, als die Nazipolizisten ihn und seine Eltern abholten.

    Von dieser lebenslangen Last des Schuldgefühls, die ihr Vater trug, weiß wohl niemand besser als seine Kinder. Tom Cramer und Claire Jebsen, die 1949 geborenen Zwillingskinder von Ernst Cramer und seiner Frau Marianne (ebenfalls eine jüdische Augsburgerin aus der Familie Untermayer), fahren von Augsburg aus weiter nach Berlin und sind dabei, als ein Buch über ihren Vater vorgestellt wird. Und in diesem Buch wird nochmals deutlich, wie schwer Ernst Cramer getragen hat am Verlust der Eltern und des Bruders.

    Ein Judenjunge durfte nicht Klassenbester sein

    Viele Selbstzeugnisse, die die Herausgeber Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff aus dem großen Nachlass Cramers zusammengestellt haben, beschreiben die zunehmende Ausgrenzung der jüdischen Familie. Als ein Freund von der Bücherverbrennung in München berichtete, sagte Cramers Mutter noch: „So etwas wird es hier nicht geben, wir leben doch in einem Rechtsstaat.“ Sie irrte – die Bibliothek des kunstsinnigen Vaters und auch sein Cello zerfledderten und zertrampelten SS-Leute wenig später. Und Erwin, der hochbegabte Junge, wurde nach Anweisung des Konrektors im Realgymnasium so streng zensiert, dass er nicht mehr Klassenerster werden konnte. „Das geht nicht, dass ein Judenjunge der Beste ist“, soll der Konrektor gesagt haben.

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    Ernst Cramer lebte da schon nicht mehr bei der Familie in Augsburg. Nach Lehre und Verkaufstätigkeit in den Kaufhäusern Landauer und Schocken hatte er als 24-Jähriger eine landwirtschaftliche Ausbildung auf einem Gut in Schlesien begonnen, wo junge Juden sich auf die Auswanderung vorbereiteten. Nach dem Pogrom 1938 wurde er im KZ Buchenwald inhaftiert, vier Wochen lang schikaniert und gefoltert, dann frei gelassen unter der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen. 1939 konnte

    Als die USA in den Krieg gegen Deutschland eintraten, meldete sich Cramer, inzwischen US-Bürger, freiwillig zur Armee. „Das war mein Kampf“, schrieb er viele Jahre später, er habe den Gedanken nicht ertragen können, dass Deutschland auf immer von Unrecht regiert würde. Der junge Sergeant war bei der Invasion in der Normandie dabei, in einer Propaganda-Kompanie, die mit Flugblättern und Radiosendungen deutsche Soldaten zum Aufgeben zu bewegen suchte. Und über Buchenwald und Nürnberg kam er 1945 nach Augsburg, entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch voller Hoffnung, Eltern und Bruder wieder anzutreffen. Doch er fand nur die alte Köchin Clothilde, die ihm unter Tränen sagte: „Mein Beten hat nicht geholfen.“

    Ernst Cramer blieb, mit einer kurzen Unterbrechung, in Deutschland. „Ich gehöre hierhin“, hatte er schon früh empfunden und damit seine Mithilfe beim Aufbau eines demokratischen Deutschland begründet. Er arbeitete für die Militärverwaltung, vergab Lizenzen für Presse und Rundfunk (auch als in Augsburg die Schwäbische Landeszeitung zugelassen wurde, war er involviert), schrieb für die Münchner Neue Zeitung, die die Amerikaner herausgaben, und wurde 1957 enger Mitarbeiter des Verlegers Axel Springer. Wie damals in der Nachkriegszeit Karrieren gestiftet wurden, beschreibt er launig: Nach einem Streit über das Verhältnis zwischen der jungen Bundesrepublik und

    Den Journalisten Cramer, dessen Credo lautete „Solide recherchierte Nachrichten sind das Wichtigste“, beleuchtet das Buch ausführlich. Kein Wunder, sind die beiden Herausgeber doch selbst Journalisten im Springer-Verlag. Interessant wäre es freilich auch gewesen, über den privaten Ernst Cramer, den Ehemann und Familienvater mehr zu erfahren. Und man vermisst auch ein wenig die Einordnung von Cramers strammem Antikommunismus, von seiner Ablehnung der „Zone“, wie er die DDR nannte, und seiner Distanz zu Willy Brandts Ostpolitik. War dies der Loyalität zu Axel Springer geschuldet oder seiner Dankbarkeit gegenüber Amerika?

    Deutlich wird gleichwohl Ernst Cramers Gradlinigkeit – seine liberal-konservative Haltung, sein Bekenntnis sowohl zu Amerika wie auch zu Deutschland und seine eigentlich überraschende Anhänglichkeit an seine Heimatstadt Augsburg. Er, der von dort verjagt worden war, der Verfolgung und Krieg überlebte, der ein langes und erfolgreiches Leben führte, wurde im Jahr 2003 zum Augsburger Ehrenbürger ernannt. Beerdigt ist Ernst Cramer auf dem Jüdischen Friedhof an der Haunstetterstraße.

    Das Buch: Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff (Hrsg.): „Ich gehöre hierhin“. Remigration und Reeducation. Der Publizist Ernst Cramer. Münchner Beiträge zur Migrationsgeschichte. Allitera-Verlag, 204 Seiten, 19,90 Euro

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