Herr Schletterer, Sie kümmern sich seit 32 Jahren um Jugendliche, die vom rechten Weg abgekommen sind. Wenn Sie dann von Vorfällen wie am Samstagabend in der Maximilianstraße hören, was geht da in Ihnen vor?
Erwin Schletterer: Das ist natürlich erschreckend und nicht zu akzeptieren. In solchen Situationen zeigen die Jugendlichen ein ganz anderes Gesicht, wie sie es in unseren Maßnahmen tun. An diesem Wochenende spielten auch Alkohol und die Dynamik einer großen Gruppe eine Rolle. Das ist eine völlig andere Lage, wie wir sie bei uns in der Arbeit mit den jungen Menschen haben. In solchen Situationen reicht es dann oft, wenn einige wenige gewaltbereit sind. Sie entfachen einen Funken, der ein großes Feuer auslöst.
Sind es denn wirklich nur einige wenige? Die Polizei berichtet von 200 bis 300 Personen, die zum Zeitpunkt der Ausschreitungen vor Ort waren.
Schletterer: Wir betreuen in unseren Maßnahmen pro Jahr etwa 2000 Jugendliche. Das ist eine große Zahl, aber davon sind nur etwa 15 Prozent mehrfach auffällig - und das nicht nur durch Gewalttaten. Ich bleibe dabei, dass es nur einige wenige sind, die am Abend bewusst in die Maximilianstraße gehen, um dort Ärger zu machen. Die gibt es, aber sie sind in der Minderheit.
Wie erklären Sie sich dann solche Vorkommnisse wie am vergangenen Wochenende?
Schletterer: Am Samstag ballten sich gut 1500 Menschen auf engem Raum, es war heiß, die Stimmung - vielleicht auch durch das gewonnene Fußballspiel - war euphorisiert, es floss Alkohol, die immer noch besondere Situation durch die Pandemie, da kamen mehrere Faktoren zusammen. Einige wenige zünden dann einen Funken, der plötzlich in der Gruppendynamik auf andere überspringt und sie mitreißt. Jugendliche wollen nicht als Feigling dastehen oder wollen Freunden beistehen, und schon sind sie mittendrin. Oft sind die Beteiligten im Nachhinein über sich selbst und ihr Handeln erschrocken.
Immer wieder heißt es, es seien vor allem Männer mit Migrationshintergrund in solche Auseinandersetzungen verwickelt. Stimmt das?
Schletterer: Wenn wir unsere Zahlen anschauen, dann ist es schon so, dass Gewalttaten vorwiegend von Männern begangen werden. Natürlich sind da auch Männer mit Migrationshintergrund dabei. Das ist in einer Stadt mit vielen Migranten aber auch nicht anders zu erwarten. Ihr Anteil ist aber auch nicht überproportional. Solche Gewalttaten haben auch nicht grundsätzlich etwas mit der Nationalität zu tun, sondern mit dem Männerbild, das die Betroffenen haben. Ist es sehr patriarchalisch geprägt und es geht darum, sich als Mann zu beweisen, keine Angst zu zeigen, sich durchzusetzen und so weiter, dann ist die Gefahr, gewalttätig zu werden, größer. Auch dann, wenn ich selbst beispielsweise in der Familie Gewalt erfahre.
Die Jugendlichen hatten keine Hemmungen, auch Polizisten anzugreifen. Warum fehlt hier jeder Respekt?
Schletterer: Die Polizei ist für viele unserer Jugendlichen, die wir betreuen, ein Feindbild. Sie kommen immer nur in negativen Situationen mit den Beamten zusammen. Beispielsweise bei Kontrollen. Bei Ereignissen wie am Wochenende bricht dann die Unzufriedenheit darüber durch. Aber nicht nur gegenüber den Polizisten, sondern auch bezogen darauf, was zuletzt alles schief gelaufen ist. Dieser Frust bahnt sich seinen Weg und die Polizei wird als Katalysator benutzt und bekommt all den Unmut in seiner vollen Wucht ab.
Haben solche Gewaltdelikte in den letzten Jahren zugenommen, wie es für viele den Eindruck macht?
Schletterer: Nach unseren Erkenntnissen nicht. Wir hatten diesbezüglich in Augsburg Höhepunkte in den 1990er- sowie in den 2008er- und 2009er-Jahren. Da mussten wir teils mehrere Anti-Aggressionstrainings parallel laufen lassen, um den vielen Anfragen gerecht zu werden. Zuletzt aber hat die Jugendkriminalität aus unserer Sicht abgenommen. Es gab zuletzt dafür mehr größere Vorkommnisse, die medial auch stark aufbereitet worden sind. Das schafft womöglich den Eindruck, dass sich die Lage verschärft hat.
Wie nehmen Ereignisse wie am Wochenende Einfluss auf Ihre Arbeit? Müssen Sie stellenweise akzeptieren, dass nicht jeder Jugendliche zurück auf den rechten Weg findet?
Schletterer: Da womöglich Jugendliche unserer Maßnahmen daran beteiligt waren oder nach diesem Vorfall zu uns kommen, betrifft es uns natürlich direkt. Wir müssen aber auch mit allen anderen Jugendlichen bei uns darüber sprechen. Grundsätzlich finde ich, dass es sich bei jedem jungen Menschen lohnt, daran zu arbeiten, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Wir sehen aber an solchen Vorfällen auch, dass es ihnen nicht in allen Situationen gelingt, das bei uns Gelernte abzurufen. Wir als Einrichtung müssen uns daher überlegen, wie wir weitermachen. Beispielsweise werden wir überlegen, die Polizei noch stärker in unsere Präventionsarbeit einzubeziehen.
Welche Maßnahmen wünschen Sie sich seitens der Stadt für den weiteren Sommer?
Schletterer: Das Feiern ganz zu verbieten, wäre aus meiner Sicht nicht richtig. Das würde die vielen treffen, die sich ordentlich benehmen. Wichtig wäre daher eine Entzerrung. Das heißt, es müssten mehr Orte geschaffen werden, an denen Jugendliche sich treffen, feiern und tanzen können. Dann entspannt sich die Lage in der Innenstadt. Wenn Clubs und Diskotheken wieder öffnen dürfen, hilft das auch weiter. Aber noch ist eben Pandemie und wir müssen andere Lösungen finden.
Zur Person: Erwin Schletterer ist Heilpädagoge und Geschäftsführer des Vereins "Die Brücke" in Augsburg. Der Verein wurde 1985 gegründet und ist im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention tätig. Er betreut straffällige junge Menschen.
Über die Probleme in der Maximilianstraße sprechen wir auch in der aktuellen Folge des Podcasts "Augsburg, meine Stadt". Hier können Sie das Gespräch anhören.