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Interview: Pfarrer Stahl: "Der Hang zur Gewalt ist ein Teil der menschlichen Natur"

Interview

Pfarrer Stahl: "Der Hang zur Gewalt ist ein Teil der menschlichen Natur"

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     Der evangelische  Pfarrer Andreas Stahl hat ein Buch zum Thema "Glaube nach Gewalterfahrungen" geschrieben.
    Der evangelische Pfarrer Andreas Stahl hat ein Buch zum Thema "Glaube nach Gewalterfahrungen" geschrieben. Foto: Michael Kienastl

    "Wer vom Glauben redet, kann von Gewalt nicht schweigen." Dies schreibt Bischöfin Kirsten Fehrs im Geleitwort zu Ihrem Buch "Wo warst du, Gott?". Außerdem rät sie den Leserinnen und Lesern, innerlich gewappnet zu sein für dieses Buch. Was muten Sie der Leserschaft damit zu?
    ANDREAS STAHL: Die Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema, das an vielen Grundfragen rührt, das betrifft. Dieses Thema ist Teil unseres menschlichen Mit- und Gegeneinanders. Das kann man verdrängen. Ich finde es aber hilfreicher, sich reflektiert damit auseinanderzusetzen.

    Sie sind ein junger evangelischer Theologe und im Stadtteil Bärenkeller sowie in Neusäß-Täfertingen als Pfarrer tätig. Zugleich sind Sie Traumafachberater. Wie hängen diese beiden Professionen zusammen?
    STAHL: Mein Beruf ist evangelischer Pfarrer. Die Ausbildung in Traumafachberatung habe ich während meiner Promotionszeit gemacht, als Zusatzqualifikation für meine seelsorgerliche Arbeit und um inhaltlich und methodisch dazuzulernen. Aber Traumafachberater ist für mich kein eigener Beruf. Sehr wohl aber ist es eine wichtige Ergänzung für meine Arbeit als Pfarrer.

    Gibt es Schnittmengen, oder hat das eine wenig mit dem anderen zu tun? Haben sich auch Menschen mit Gewalterfahrungen Ihnen anvertraut?
    STAHL: Mir ist seelsorgerliche Verschwiegenheit sehr wichtig. Aber ich kann Ihnen sagen, dass beides viel miteinander zu tun hat. Gewalt betrifft sehr viele Menschen in unserer Gesellschaft und entsprechend auch in den Kirchengemeinden. Wenn Sie mal basierend auf einer repräsentativen Studie von einer Quote von 4,4 Prozent Betroffenheit von sexualisierter Gewalt in der Kindheit ausgehen und das auf die Kirchenmitgliedszahlen in Augsburg übertragen, sind Sie bei vierstelligen Zahlen.

    Wie wird man überhaupt Traumafachberater?
    STAHL: Hier gibt es Institute und Einrichtungen, die Fortbildungen anbieten, die sich ungefähr über zwei Jahre erstrecken. Ich habe meine Ausbildung damals beim Traumahilfezentrum in München gemacht. Hier in Augsburg gibt es zum Beispiel das Traumahilfe Netzwerk, das entsprechende Kurse im Programm hat.

    Was hat Sie bewogen, sich mit dem Thema Gewalt zu befassen?
    STAHL: Hier gibt es verschiedene Gründe. Sehr wichtig war für mich ein Auslandssemester in Hongkong. Ich war dort über Mitstudierende in einer Gemeinde, die fast ausschließlich aus weiblichen indonesischen Hausangestellten bestand. Viele erlebten in den Familien dort Gewalt. Dazu kam ein Seminar an der Hochschule, das sich mit Seelsorge nach Gewalterfahrungen befasste. Das alles trug mit dazu bei, mich näher mit dem Thema zu befassen.

    Warum sind Menschen, sei es in körperlicher, psychischer und sexueller Hinsicht, so gewaltbereit?
    STAHL: Zu den ersten Geschichten in der Bibel gehört der Brudermord von Kain an Abel. Nun ist das eine symbolische Geschichte. Aber sie drückt aus, dass der Hang zur Gewalt für die Autoren der Bibel ein Teil der menschlichen Natur ist. Ich glaube, in vielen Grundfragen haben sich Menschen auch über die Jahrtausende nicht signifikant verändert. Das sehen wir ja leider auch gerade in der Ukraine.

    Warum haben Sie sich das Thema Gewalt für Ihre Doktorarbeit ausgesucht und es auch noch in einem Buch verarbeitet?
    STAHL: Ich hatte ja vorhin von Hongkong erzählt. Ich kam zurück und wusste, dass ich meine Abschlussarbeit zum Thema Seelsorge nach Gewalterfahrungen schreiben wollte. Daraus erwuchs dann die Promotion. Aber schon während ich an dieser schrieb, war mir klar, dass ich das Thema noch einmal allgemein verständlich aufbereiten wollte. Eben, weil es wichtig ist und viele Menschen betrifft.

    Wären Sie gerne Psychologe oder Therapeut geworden?
    STAHL: Es gab tatsächlich mal eine Zeit, in der ich überlegt hatte, Psychologie zu studieren. Ich wollte da aber eher in die Wirtschaft gehen. Ich finde den Fachbereich Psychologie auch nach wie vor spannend und wichtig. Aber ich will kein Therapeut werden. Ich finde es wichtig, Therapie und Seelsorge klar zu trennen. Beides beruht auf unterschiedlichen Ausbildungen und hat unterschiedliche Methoden und Stärken. Ich will an dem Thema "Trauma" als Theologe arbeiten. Und es gibt hier viel wichtige Arbeit zu tun.

    In Ihrem Buch geht es einerseits um Gewalterfahrungen, die Menschen durch Familienmitglieder, sonstige Personen, aber auch in ihrer Kirchengemeinde erfahren. Normalerweise hat man bei diesem Thema erst einmal die katholische Kirche und ihren Missbrauchsskandal im Blick. Hat die evangelische Kirche diesbezüglich eine reinere Weste?
    STAHL: Ich will hier nicht ins Vergleichen kippen. Auch in der evangelischen Kirche gab und gibt es Missbrauchsfälle. Und auch die evangelische Kirche hat in diesem Bereich noch einen langen Weg vor sich.

    Für wen haben Sie "Wo warst du, Gott?" geschrieben?
    STAHL: Für Betroffene, für Angehörige, für Fachkräfte, die mit Betroffenen arbeiten und für Menschen, die an theologischen Fragestellungen interessiert sind. Also vielleicht für alle, bei denen dieses Interview Interesse findet.

    Gibt es eine Haupterkenntnis, die Sie aus Ihren jahrelangen Recherchen über Gewalt und Gewalterfahrungen gezogen haben?
    STAHL: Hier würde ich mich auf das Zitat von Frau Fehrs am Anfang rückbeziehen. Vielleicht ist es die Erkenntnis, wie wichtig das Thema "Gewalt" auch für das Verständnis von Menschen, der Bibel und dem christlichen Glauben ist.

    Können Sie sich vorstellen, erneut unter die Buchautoren zu gehen?
    STAHL: Ich arbeite momentan zusammen mit zwei Mitstreiterinnen an einem Buchprojekt, in dem wir Geschichten von Menschen sammeln, die in der evangelischen Kirche Missbrauch erlebt haben. Von der evangelischen Kirche bin ich mit einem Stellenanteil für die wissenschaftliche Weiterarbeit und Habilitation in diesem Bereich freigestellt. Ich will also weiter an Texten und Büchern schreiben.

    Zur Person

    Andreas Stahl, 33, ist evangelischer Pfarrer in Augsburg-Bärenkeller und Neusäß-Täfertingen sowie Traumafachberater. Er studierte Theologie in München, Jerusalem, Erlangen, Hongkong und Stellenbosch und promovierte in Münster über "Traumasensible Seelsorge". Sein Buch "Wo warst du, Gott? - Glaube nach Gewalterfahrungen" ist im Herder-Verlag erschienen.

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