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Augsburg: Flucht vor Zwangsheirat und Gewalt: Zwei Augsburgerinnen berichten

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Flucht vor Zwangsheirat und Gewalt: Zwei Augsburgerinnen berichten

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    Viele Migrantinnen sind von Zwangsverheiratung und Ehrenmorddrohungen betroffen. Eine Beratungsstelle in Augsburg hilft ihnen.
    Viele Migrantinnen sind von Zwangsverheiratung und Ehrenmorddrohungen betroffen. Eine Beratungsstelle in Augsburg hilft ihnen. Foto: Wolfram Steinberg/Illustration (dpa)

    Die Gewalt hat viele Gesichter. Für Nasrin K. hatten sie im Beratungszentrum Solwodi am Königsplatz Kieselsteine durchs Büro gelegt. Jeder Stein ein überwundenes Hindernis, Erfolge im Kampf gegen ihren Mann, ihre Herkunft, für ihre Seele. Die Steinreihe war so lang, dass sie sich durch das ganze Büro der Sozialarbeiterin Daniela Lutz bis auf den Flur der Beratungsstelle Solwodi am

    Nasrin stammt aus der Südost-Türkei. In der Region herrscht in vielen kurdischen Familien Stammesrecht. Zwangsverheiratung, Blutrache und Ehrenmorde – die Töchter lernen früh, dass nicht sie, sondern die Familie bestimmt. Für die Ehemänner bedeutet das Versorgung, für die Mädchen Verkauf durch die eigenen Eltern und ein Leben in Angst. Nasrin war einem vier Jahre älteren Cousin versprochen, mit 14 wurde sie verheiratet. Drei ihrer Brüder wurden mit Mädchen aus der Familie ihres Mannes verheiratet, nahmen sich später Zweitfrauen, wie K. berichtet. 

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    Dass etwas falsch läuft, wusste sie schon als Kind. „Ich hatte mich immer gewehrt. Doch mit 14 gab es nur zwei Möglichkeiten: Heiraten oder Selbstmord.“ In die Einzelheiten des Lebens mit diesem „kranken Mann“ will sie nicht gehen. Eine Odyssee aus Flucht, Prügel, Vergewaltigungen. „Er sagte, ich habe dich gekauft. Du gehörst mir.“ Kurz nach der Hochzeit hatte sie eine Fehlgeburt. Doch das verstand sie erst, als sie ein Jahr später ein Kind auf die Welt brachte. Es überlebte nur wenige Tage. Mit 16 wurde sie Mutter ihres ältesten Sohnes. 2017 brannten türkische Soldaten ihr Haus nieder, das Paar beschloss zu fliehen. Es gelang ihr, den Mann auszutricksen und allein mit den Kindern nach Istanbul zu fliehen. Sie überlebte die Schleuser, die sie, weil sie kein Geld mehr hatte, samt den Kindern einen Abhang hinunterstürzen wollten. 

    Erst im Ankerzentrum Donauwörth, so erklärt sie, spürte sie das erste Mal in ihrem Leben Ruhe. „Niemand kannte uns hier, es drohte keine Gefahr.“ Sie überlebte auch den Versuch ihres Mannes, sie in Deutschland ausfindig zu machen. Damals, 2020, floh sie mithilfe der Polizei. Nur zwei Stunden später habe der Mann mit einem Messer in der Hand an der Tür der Unterkunft geklingelt, erzählten ihr die Nachbarn. Als sie in Augsburg ankam, erhielt sie die Nummer von Solwodi, Daniela Lutz organisierte eine sichere Unterkunft, kümmerte sich um Spenden für eine Therapie und die Klage gegen den abgelehnten Asylantrag. „Nasrin war völlig fertig damals“, erinnert sich Lutz. Auf K.‘s Wunsch erstellte sie mit ihr ein Testament, um die Kinder vor allen Eventualitäten zu schützen. Schließlich gewährte ihr das Verwaltungsgericht einen Abschiebestopp. Sie habe jetzt eine Heimat, sagt sie. „Ich habe viel gelernt in dieser Zeit, einen Quali gemacht, eine Ausbildung angefangen. Das ist meine Geschichte, sie gehört zu mir.“ Von ihrer Familie weiß niemand, wo sie lebt. 

    Weibliche Beschneidung: Mit 17 floh Aminata von Gambia nach Frankfurt

    Auch Aminata B., 22, muss unerkannt bleiben. Mit zehn Jahren wurde die Guineerin mit drei weiteren Mädchen in einen Wald gebracht und beschnitten. „Meine Mutter sagte, wir müssten etwas holen. Im Wald verband man uns die Augen“, erzählt B. leise. Die Genitalien wurden verstümmelt und zugenäht. Mit zwölf Jahren verheiratete ihr Vater sie mit einem Jahrzehnte älteren Mann. „Ich habe mich gewehrt, aber ich hatte keine Chance gegen meinen Vater.“ Kurz darauf bekam sie zwei Kinder. Mit 17 hielt sie es nicht mehr aus, besorgte sich falsche Papiere und 2017 brachten Männer sie von Gambia nach Frankfurt. Sie verkauften sie an Freier. Nach sieben Monaten gelang ihr auch von dort die Flucht. Sie landete erst in Bremen, dann mit einem Asylantrag und der Telefonnummer von Solwodi in der Tasche in Augsburg. Das war 2020. Erst in diesem Sommer erhielt sie mit Hilfe eines psychologischen Gutachtens einen Aufenthaltstitel. Solwodi organisierte Spenden für eine Operation der Verstümmelung, seither sind die Schmerzen besser. Sie hat Arbeit in einem Pflegeheim. Das macht ihr Spaß, aber sie will jetzt unbedingt aus der Flüchtlingsunterkunft raus. 

    Solwodi ist in Augsburg die einzige auf solche Betreuungen spezialisierte Organisation. Um bei der Nothilfe weniger auf unsichere Spenden angewiesen zu sein, fordert Solwodi für seine bundesweit 21 Fachstellen und 14 Schutzwohnungen eine ausgebaute, sichere Finanzierung. In Augsburg wird die Arbeit in Teilen vom bayerischen Sozialministerium und der Stadt finanziert. Drei Sozialarbeiterinnen teilen sich 60 Wochenstunden. Suchten 2022 insgesamt 80 Frauen erstmals das Augsburger Zentrum auf, waren es heuer allein bis November bereits 91. Darunter sieben Frauen mit drohender und 17 mit erfolgter Genitalverstümmelung, zwölf wegen drohender, 17 wegen erfolgter Zwangsverheiratung. Wegen des Verteilungsschlüssels für Flüchtlinge meldeten sich derzeit vor allem Gambierinnen, erklärt Daniela Lutz. Viel Arbeit. Ob sie ihre derzeit 100 Überstunden je loswird, weiß der Himmel, sagt sie lachend. 

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