Im zweiten Stock des Verwaltungsgebäudes am Augsburger Rathausplatz ist es ruhiger als sonst. Kurz vor dem Dreikönigstag schnauft die Stadt noch einmal durch. Der Oberbürgermeister sitzt in seinem Amtszimmer und hat keinen Termindruck. Kurt Gribl nimmt sich die Zeit, ausführlich über die Herausforderungen zu diskutieren, vor denen die Städte in den Zeiten von Migration, Wohnungsnot und Schadstoffbelastung stehen.
Herr Gribl, Augsburg gehört zu den Städten mit dem höchsten Migrationsanteil in Deutschland. Derzeit haben 45 Prozent der Einwohner ausländische Wurzeln. Der Anteil wird weiter wachsen. Wie geht eine Stadtregierung mit dieser Herausforderung um?
Kurt Gribl: Die Migration ist da und wir müssen sie gestalten. Es geht ja nicht darum, den Augsburger biotopartig zu schützen. Die Augsburger Mentalität verändert sich nicht so schnell wie die Zusammensetzung der Bevölkerung. Diese Stadt ist über Jahrtausende gewachsen, eine grundständige Kultur ist spürbar. Der Augsburger schaut sich die Dinge gerne erst einmal von zwei Seiten an, was seinen skeptischen Umgang mit Neuerungen erklärt.
Machen Sie sich als Oberbürgermeister einer Migrations- und Friedensstadt Sorgen, wenn in Bottrop ein Deutscher Jagd auf Ausländer macht oder in Amberg Asylbewerber wahllos Deutsche verletzen?
Gribl: Ich befürchte solche Vorfälle in Augsburg nicht akut. Aber ich bin jeden Tag froh, wenn wir keine Eskalationen dieser Art erleben. Ich denke, wir haben vieles richtig gemacht, was die Integration von Zuwanderern betrifft. Migration ist eine Herausforderung. In der Stadt gibt es Dutzende hauptamtliche und ehrenamtliche Initiativen, die sich um die Eingliederung von Migranten kümmern. Auf diese Graswurzelarbeit bin ich stolz. Das trägt zum sozialen Frieden bei. Ob er dauerhaft trägt, kann ich nicht sagen.
Ihre Partei, die CSU, hat sich das Schlagwort „Heimat“ auf die Fahne geschrieben. Wie gehen denn Augsburger Migranten mit diesem Heimatbegriff um?
Gribl: Das müssen Sie die Migranten fragen. Bei mir hat sich noch keiner beschwert, dass er sich ausgeschlossen fühlt. Beim Thema Heimat geht es auch um die Pflege der kulturellen Identität bis hin zu Tradition, was aber nicht im Sinne der Abgrenzung zu verstehen ist. Ein kulturelles Selbstbewusstsein kann auch dienlich sein bei der Begegnung mit Migranten. Das ist sinnvoller als dieser Einheitskleister aus einer schöngeredet bunten Gesellschaft.
Dann könnte der Heimatbegriff ja so etwas wie eine bayerische oder Augsburger Leitkultur sein.
Gribl: Es gibt eine faktische Leitkultur in Augsburg, keine verordnete. Die DNA der Augsburger ist durch eine jahrtausendealte Kulturgeschichte aus Parität, Frieden und freiem reichsstädtischen Bürgerstolz geprägt. Das bestimmt unser Selbstbewusstsein und unseren Umgang mit Veränderungen, denen wir vielleicht eine Spur gelassener entgegensehen als andere.
Ist es angesichts des hohen Augsburger Migrationsanteils denkbar, dass in einigen Jahren ein türkischstämmiger Oberbürgermeister in Augsburg regiert?
Gribl: Jeder, der bereit ist, die DNA der Augsburger zu verstehen und sie bei seinem Wirken berücksichtigt, kann auch Oberbürgermeister werden. Egal welcher Herkunft er ist. In Bonn etwa gibt es einen Oberbürgermeister mit indischem Hintergrund, in Augsburg hatten wir mit Peter Grab einen dritten Bürgermeister mit tschechischen Wurzeln.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Weihnachtsbotschaft auch die Sprachlosigkeit unserer Gesellschaft, das Leben in Filterblasen angesprochen. Welchen Ansatz hat die Friedensstadt Augsburg, um dem zu begegnen?
Gribl: Ich beobachte diese Sprachlosigkeit ebenfalls mit Sorge. Es ist bequem, sich in der eigenen Blase bestätigt zu sehen und sich nicht mehr mit anderen Argumenten auseinandersetzen zu müssen. Wir unternehmen derzeit den Versuch, eine Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung nach Augsburg zu holen. Gemeinsam wollen wir eine Einrichtung gründen, die das Ziel hat, gegen Hassparolen und Fake News in den sozialen Netzen vorzugehen.
Der Deutsche Städtetag warnt vor einem Verkehrskollaps und fordert von Bund und Land mehr Unterstützung. Auch bayerische Städte leiden zunehmend unter dem Autoverkehr.
Gribl: Jede Stadt muss eigene Wege für die Verkehrswende finden und die Probleme individuell lösen. Daraus den Vorwurf abzuleiten, die Kommunen würden nicht ausreichend unterstützt, ist meines Erachtens nicht zutreffend. Die Verkehrssituation in Stuttgart ist anders als in Augsburg, und in Augsburg anders als in Bremen.
Aber es gibt ja Parallelen. Alle Städte versuchen, die Automobilität zugunsten von öffentlichem Nahverkehr (ÖPNV) und auch Fahrradverkehr zurückzudrängen. Was würde denn ein kostenloser ÖPNV in Augsburg die Steuerzahler kosten?
Gribl: Das kann ich nicht beziffern. Derzeit entlasten wir den ÖPNV jährlich mit ungefähr 50 Millionen Euro. Dazu kommen die Einnahmen unserer Verkehrsbetriebe, die noch einmal bei 50 Millionen jährlich liegen. Bei einer Kostenfreiheit käme die Optimierung der Infrastruktur hinzu: Wir bräuchten zusätzliche Linien, flächig noch engere Taktzeiten, mehr Mitarbeiter, zusätzliche Straßenbahnen und Busse. Das würde richtig teuer.
Wie ist Ihre Vision für die Mobilität in einer Stadt der Zukunft?
Gribl: Ein attraktiverer ÖPNV wird eine deutlich größere Rolle spielen als heute. Die Menschen werden den Zeitgewinn zu schätzen wissen, wenn sie gefahren werden, statt selbst das Auto zu steuern. Auch Carsharing wird als Alternative zum Zweitauto an Bedeutung zunehmen. Die Fahrradmobilität gewinnt weitere Marktanteile, doch es wird nicht so weit gehen, dass wir eine autofreie Innenstadt haben. Es wäre falsch, das Auto auszugrenzen. Ziel ist es, den Spaß am Radfahren und am ÖPNV zu erhöhen, dann reduziert das den Autoverkehr sinnvoller als mit Verboten.
Augsburg hat bald 300.000 Einwohner. Doch im Vergleich zum Nachbarn München geht es hier entspannter zu. An der Isar sind die Mieten explodiert. Wann schwappt die Teuerungswelle nach Augsburg über?
Gribl: Augsburg ist nicht vergleichbar mit München. Wir sind kleinteiliger und haben nicht das räumliche Potenzial, eine globale Bedeutung im Sinne Münchens zu erreichen.
Doch Bayerns Hauptstadt ist nur eine halbe Autostunde entfernt. Viele Münchner leben in Augsburg, kaufen Immobilien. Die Preise sind auch am Lech deutlich gestiegen. Für Neubauwohnungen werden schon Quadratmeterpreise um die 8000 Euro gezahlt.
Gribl: Das ist auch ein Kompliment an unsere Stadt. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als Augsburg schrumpfte und es nach dem Abzug der US-Soldaten Ende der 90er Jahre großflächig Leerstände gab. Die Frage ist, wie können wir unsere Dynamik so organisieren, dass es keine nachteiligen Nebeneffekte gibt? Man kann ja eine Stadt nicht bremsen. Wir müssen das organische Wachstum aber steuern.
Augsburger Normalverdiener können sich Wohnraum in der Innenstadt kaum noch leisten.
Gribl: Zunächst einmal hat sich noch keiner der zehntausenden Augsburger Immobilienbesitzer bei mir beschwert, welchen Wertzuwachs die Stadt generiert hat. Das muss man auch sagen dürfen. Bei den Mieten sind wir hier noch bei einem Durchschnittspreis von 7,30 Euro. Das heißt nicht, dass es nicht auch Neubaumieten in der City von zwölf bis 14 Euro gibt. Doch das wird eine natürliche Grenze finden. Münchner Verhältnisse mit Durchschnittsmieten von 16 Euro wird es aber bei uns nicht geben. Das gibt der Markt nicht her.
Die Vermieter würden sich darüber freuen.
Gribl: Viele Augsburger Vermieter sind da anders als die Innenstadt-Vermieter in München. Wir beobachten, dass viele Immobilienbesitzer bei uns die Mieten nicht in die Höhe getrieben haben. Hier am Lech ist man bescheidener und langfristiger orientiert als an der Isar.
Doch die Stadt Augsburg wächst. Das Statistische Landesamt erwartet acht Prozent mehr Einwohner bis 2037. Das wären dann 316.000. Brauchen Städte wie Augsburg bald mehr Hochhäuser, um die Menschen unterzubringen?
Gribl: Ob diese Steigerung realistisch ist, wage ich zu bezweifeln. Ich gehe von einer verhalteneren Entwicklung aus. In jedem Fall wären Hochhäuser keine gute Entscheidung. Das würde den Charakter unserer Stadt verändern und würde aktuelle Probleme auf Kosten der nächsten Generation lösen. Neue Hochhäuser passen nicht zu Augsburg. Doch natürlich müssen wir bauen, bauen, bauen. Das kann auch ein Stockwerk höher sein in bestimmten Neubaugebieten. Aber ein zweites Schwabencenter gibt es mit mir nicht.
Gibt es denn noch geeignete Grundstücke in einer Zeit, in der der Flächenverbrauch kritisch gesehen wird?
Gribl: Wir haben noch genügend verfügbare Grundstücke für die nächsten fünf bis sieben Jahre. Darüber hinaus muss sich die Stadtgesellschaft entscheiden. Wenn wir weiter wachsen wollen, bedeutet das auch maßvollen Flächenverbrauch. Insgesamt müssen wir aber großräumiger denken. Die Region wächst nicht nur in Augsburg, sondern auch im Umland, wo es mehr Flächen gibt.
Finanziell gibt es im Großraum Augsburg eine Schieflage. Die Metropole sitzt wegen zahlreicher sozialer und kultureller Aufgaben auf über 400 Millionen Euro Schulden, während kleinere Nachbarn wie Gersthofen oder Friedberg sich über hohe Summen auf den Festgeldkonten freuen.
Gribl: Diese Situation kann nur über solidarische Beteiligungen an den Aufgaben wie der Mobilität oder des sozialen Wohnungsbaus aufgelöst werden. Eine neue Gebietsreform mit Eingemeindungen wäre falsch. Das wird heute von den Menschen nicht mehr akzeptiert. Die Gebietsreform des 21. Jahrhunderts ist die Mobilität und die Digitalisierung. Dadurch können wir Kommunen sinnvoll miteinander verknüpfen, ohne Grenzen zu verschieben.
Zur Person: Kurt Gribl (54), promovierter Jurist, ist seit 2008 Oberbürgermeister der Stadt Augsburg. Im Jahr 2015 wurde er zum stellvertretenden CSU-Vorsitzenden gewählt. Seit 2017 ist er Präsident des Bayerischen Städtetags.