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Augsburg: Zufluchtsort Augsburg: Ein Tag im Leben ukrainischer Geflüchteter

So bestreiten Geflüchtete aus der Ukraine ihr Leben in Augsburg.
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Zufluchtsort Augsburg: Ein Tag im Leben ukrainischer Geflüchteter

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    Ein kaltes, blaues Leuchten liegt in Zlatas Augen. Es bohrt sich durch die Fensterfront in den verregneten Morgen, bis zum Hotelturm am Horizont. Aber die Zehnjährige starrt ins Nichts, wie sie da gewunden auf der Bierzelt-Garnitur sitzt. Die Fußspitzen zeigen nach innen, der blonde Schopf richtet sich nach draußen. Der Körper in Augsburg, der Kopf woanders. Zlata ist eben aufgestanden, so wie die meisten anderen hier im Frühstücksraum der Notunterkunft für ukrainische Geflüchtete. Sie alle beginnen gerade einen neuen Tag in ihrem neuen Leben.

    9.10 Uhr, Haunstetten: Das Erwachen

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    Hunderte Menschen, die dem Grauen des Kriegs in der Ukraine entronnen sind, haben inzwischen in Augsburg Zuflucht gefunden. Für viele von ihnen ist die Notunterkunft auf dem Fujitsu-Gelände der Ort, wo sie nach Tagen der Flucht etwas Sicherheit und Ruhe finden, eine warme Dusche und ein echtes Bett. Und so haben an diesem Morgen, kurz nach 9 Uhr, einige im Schlafsaal ihre Augen noch geschlossen. Einst Großraumbüro, reihen sich dort nun die Stockbetten aneinander, viele davon mit Handtüchern oder Kleidung verhangen. Auch abgetrennte Zimmer gibt es, für Schwangere etwa. In der gesamten Unterkunft ist Platz für rund 300 Menschen, etwas mehr als die Hälfte ist momentan da. Lange werden sie nicht bleiben, doch ein klein wenig Alltag haben sie sich schon geschaffen.

    Ein putzmunterer Bub in blauen Hosenträgern bestreitet ein Wettrennen mit sich selbst. Seine Strecke führt aus dem Schlafsaal in eine Art Aufenthaltsraum für Kinder. Dort: ein Krabbeln und Gehen. Etwas Spielzeug liegt herum, buntes Plastikmobiliar, irgendwer hat mit Legosteinen gebaut, was dem Augsburger Rathaus ähnelt. An einem Kindertisch sitzt ein Mädchen, kaum zehn Jahre alt, Kopfhörer im Ohr. Es tippt auf dem angeschlossenen Smartphone herum, überlegt kurz, und schreibt dann konzentriert kyrillische Buchstaben in das Heft vor sich. Viele Kinder hier besuchen per Internet Schulen, die tausende Kilometer entfernt sind und oft schon gar nicht mehr stehen.

    Nebenan, im lichtdurchströmten Frühstücksraum, sitzt Zlata und wirft ihren blauen Blick nach draußen. Sie hat Mutter Olena und Bruder Jaromir bei sich, auf der anderen Seite des Tischs haben Oleksandra und ihre 15-jährige Tochter Miroslava Platz genommen. Am Büffet haben sie sich von allem ein bisschen geben lassen, Salami und Scheibenkäse, Joghurt und Tee, Apfel und Ei. Die Frauen und Kinder sind vor wenigen Tagen gemeinsam nach Augsburg gekommen, man kennt sich aus der Hafenstadt Cherson im Süden der Ukraine. "Wir haben ein gutes Leben gehabt: eine schöne Wohnung, gute Arbeit, Hobbys, Freunde", sagt Oleksandra, 44 Jahre, kurzes dunkelbraunes Haar, gepflegtes Äußeres. "Jetzt ist alles, wirklich alles anders." Den Tag verbringe sie damit, nach einer neuen Unterkunft Ausschau zu halten, Formulare auszufüllen, Anträge zu stellen. Tochter Miroslava gehe viel spazieren. "Mehr schaffen wir gerade nicht", sagt Oleksandra noch, Bitterkeit in der Stimme. Dann blickt sie nach draußen, ins Grau und den Regen.

    10.35 Uhr, Bahnhofsviertel: Das rosa Knopfaugen-Schaf

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    Auf einem Tisch im Herzen Augsburgs steht ein Schaf. Es ist aus Kunststoff, hat mit seinem rosa besprenkelten Körper, den zwei Knopfaugen und einem angedeuteten Lächeln aber doch so etwas wie Leben. Eine Kinder-Kreation, Karynas Kunst. Das rosa Knopfaugen-Schaf ist vollendet, also macht sich die Sechsjährige wieder auf den Weg durch die Regale. Hier ein Griff in die Kiste mit Kork, dort ein Blick in die Kiste mit bunten Stoff-Rollen. Vielleicht passen auch die Glitzerstein dazu? Man weiß ja nie, Grenzen soll es keine geben.

    Mit Aumida, direkt am Königsplatz, hat die Stadt ein kleines Paradies für Fantasievolle geschaffen, einen Sammel-, Mal- und Bastelort. Geflüchtete Kinder sollen hier die Möglichkeit bekommen, sich auszudrücken und Erlebtes zu verarbeiten. Was für Karyna das rosa Schaf ist, war kürzlich für einen vierjährigen Bub ein Wasserfarben-Bild. Klar zu erkennen sind dort ein Männchen und die Sonne. Daneben: eher verwaschene, abstrakte Formen. Sie haben hier schon gerätselt, was sie bedeuten könnten. Ein Gewehr? Oder doch ganz Alltäglich-Banales? Man tut sich schwer mit dem Interpretieren, wie es mit der Kunst eben manchmal ist.

    Die sechsjährige Karyna ist mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Augsburg geflüchtet. Untergekommen ist sie bei der Profi-Rennrodlerin Dajana Eitberger.
    Die sechsjährige Karyna ist mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Augsburg geflüchtet. Untergekommen ist sie bei der Profi-Rennrodlerin Dajana Eitberger. Foto: Silvio Wyszengrad

    Karyna bahnt sich ihren Weg durch den Raum, ihr hinterher blickt Dajana Eitberger. Die Profi-Rennrodlerin, die in Augsburg lebt, hat die Sechsjährige vor gut zwei Wochen zusammen mit Bruder und Mutter bei sich aufgenommen. Sie stammen aus dem Raum Kiew. "Wir wollen, dass sie sich als willkommene Gäste fühlen, nicht als Flüchtlinge", sagt Eitberger. Vieles im Alltag müsse sich noch einspielen, man verständige sich vor allem mit Google-Übersetzer und Hand und Fuß. Umso wichtiger sei es aber für Karyna, sich austoben zu können. Und das scheint zu gelingen. Karyna hat alles beisammen, was sie braucht, und setzt sich wieder an den Basteltisch. Nächstes Werk soll ein Styropor-Schneemann sein.

    12.15 Uhr, Domviertel: Der Leib und die Seele

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    Eine Frau mit Kinderwagen kommt durch die Stahltür, etwas zögerlich noch. Sie schaut vorsichtig in den länglichen Raum vor sich. Dann erkennt sie am anderen Ende ein vertrautes Gesicht und winkt. Die Bekannte steht schon an der Essensausgabe, ein Teller gemischter Salat, ein Teller Krautwickel. Etwas Deftiges liegt in der Luft, die Entlüftungsanlage surrt leise vor sich hin, an den Tischen Keramik-Klirren. Eine Mutter stillt ihr Baby, ein kleines Mädchen kraxelt an einer Treppenstufe herum. Mittagszeit im Grandhotel Cosmopolis.

    Die Geflüchteten bekommen hier, wie auch im Café Tür an Tür, jeden Tag eine kostenlose Mahlzeit. Es ist ein Ort fürs Essen und Trinken, vor allem aber fürs Reden und Verlinken. Gut zwei Dutzend Menschen sind diesmal in den alternativ-gemütlich eingerichteten Speisesaal gekommen. Manche sitzen allein da, andere sind schon verabredet oder zusammen gekommen. So wie Irina und Anna, beide heute zum zweiten Mal im Grandhotel Cosmopolis. Bis Anfang März lebte die eine in Charkiw im Nordosten der Ukraine, die andere im eher südwestlichen Czernowitz. Jetzt sitzen die Frauen im Augsburger Domviertel und essen Krautwickel.

    Die Ukrainerinnen Irina und Anna (vorne, von rechts) bekommen im Grandhotel Cosmopolis ein kostenloses, warmes Mittagessen. Um die Verpflegung kümmert sich Ekaterina, Praktikantin in der Einrichtung.
    Die Ukrainerinnen Irina und Anna (vorne, von rechts) bekommen im Grandhotel Cosmopolis ein kostenloses, warmes Mittagessen. Um die Verpflegung kümmert sich Ekaterina, Praktikantin in der Einrichtung. Foto: Max Kramer

    Es ist kompliziert, sagt Irina. Das Wichtigste habe man erreicht, die Kinder sind in Sicherheit. Und dankbar sei sie natürlich für all die Hilfe. Aber natürlich mache sie sich schreckliche Sorgen um ihre Verwandten, die sie in der Ukraine zurücklassen musste. "Manchmal muss ich mich aus Gesprächen mit den anderen zurückziehen", sagt sie. "Immer geht es um Krieg, Krieg, Krieg." Anna nickt und hält ihrer Tochter weiter das Smartphone hin. Auf Youtube läuft eine Zeichentrick-Serie, Tiere mit großen Augen singen und spielen miteinander. Ablenkung aus einer heilen, weit entfernten Welt.

    17.05 Uhr, Pfersee: Die Landung

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    Alesia will als Athletin zu Olympia. Das mag noch ein paar Jahre dauern, den Weg dorthin rollt sich die Achtjährige aber gerade aus. Gleich geht das Training für die Nachwuchs-Gymnastinnen des TV Augsburg los, Alesia richtet mit den anderen Mädchen den weichen Untergrund zurecht. Etwas zurückhaltend ist sie noch, aber nicht scheu. Und ohnehin sticht sie auf ihre eigene Art hervor. Alesia, eines von drei aus der Ukraine geflüchteten Mädchen hier, ist außerordentlich talentiert - das bescheinigen die Trainierinnen, das sieht man an diesem grauen Nachmittag in der Sporthalle am Rosenaustadion. Das zierliche Mädchen lässt sämtliche Verrenkungen und Biegungen so grazil und elegant aussehen, als seien sie leicht.

    Sport ist eine der Sprachen, die Alesia beherrscht. Deutsch wird immer mehr zu einer weiteren. Dafür, dass sie erst seit Ende Februar in Deutschland ist, drückt sie sich bemerkenswert fließend aus. "Mir geht es gut, ich trainiere hier, ich bin gerne hier, ich gehe in die Schule", zählt sie auf. Heute habe sie einen Test gehabt. Eine Schulaufgabe, jetzt schon? Aushilfs-Übersetzerin Anastasia und Trainerin Anastasiia springen ein: Es geht um eine Fahrradprüfung. Und, wie lief's? "Super." Alesia lacht, Anastasiia auch.

    Sport ist ihre Sprache: Trainerin Anastasiia und Gymnastin Alesia (von rechts) kennen sich bereits aus der Ukraine. Unterstützt werden sie beim TV Augsburg auch von der 18-jährigen Anastasia Fleck (links).
    Sport ist ihre Sprache: Trainerin Anastasiia und Gymnastin Alesia (von rechts) kennen sich bereits aus der Ukraine. Unterstützt werden sie beim TV Augsburg auch von der 18-jährigen Anastasia Fleck (links). Foto: Silvio Wyszengrad

    Es ist eine besondere Beziehung zwischen den beiden. Sie kennen sich seit Jahren, schon in einem Vorort von Kiew war Anastasiia Alesias Trainerin. "Wir sind wie Verwandte", sagt Anastasiia und legt ihren Arm liebevoll um das Mädchen. Die 26-Jährige lebt seit Anfang März in Augsburg, gerade ist sie in eine Zweier-WG gezogen. Beim TVA arbeitet sie momentan auf 450-Euro-Basis, sie soll bald mehr Stunden übernehmen und ihre Trainer-Lizenzen machen können. Es ist der Sprung in ein neues Leben. Die Landung scheint zu gelingen.

    19.15 Uhr, Wolframviertel: Der Lichtblick im Sonnenuntergang

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    Alles ist angerichtet: Der Tisch ist gedeckt, die Backform mit frischem Gemüse im Ofen. Ein Hauch von Rotwein liegt im Wohnzimmer von Karen Vaughan und Marco Ranalli. Nach einem langen Tag gibt es Abendessen und die Familie kommt zusammen: Das sind Karens Schwester Gina mit Mann Marco und Sohn Matteo - und seit ein paar Tagen auch Yulia, Dania und Daria. Sie haben hier, im Wolframviertel, ein neues Zuhause gefunden und auch schon ein bisschen Heimat.

    Es ist nicht die erste Flucht, die die Familie hinter sich gebracht hat. Bis vor knapp zehn Jahren lebte sie in Luhansk. Dann wurde die Region Kriegs-Schauplatz, Bleiben wurde unmöglich. "Man sieht: Wir haben Erfahrung mit Kriegen", sagt Tochter Daria und wirft ein bitteres Lächeln in den Raum. Ihre Großeltern sind noch in

    Dania, Yulia und Daria Yeromina (vorne, nach rechts) haben im Haus von Karen Vaughan (rechts hinten) und Marco Ranalli (daneben) eine neue Heimat gefunden.
    Dania, Yulia und Daria Yeromina (vorne, nach rechts) haben im Haus von Karen Vaughan (rechts hinten) und Marco Ranalli (daneben) eine neue Heimat gefunden. Foto: Max Kramer

    Der Krieg ließ ihnen keine Zeit zum Überlegen. Es war, sagen Daria und Yulia, eine Entscheidung von Sekunden, in Bussen nach Deutschland zu kommen, mit dabei kaum mehr als sie selbst. Anfangs übernachteten die drei noch in einer Sammelunterkunft, dann fanden sie - auch unter Vermittlung des Augsburger Lions-Clubs Elias Holl - zu ihrer neuen, zweiten Familie. "Wir hätten ja überall hinkommen können", sagt Daria, dankbar. "Jetzt sind wir hier. Und ich denke, wir hatten Glück."

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