Lisa Z. (Name geändert) kann es nicht fassen. Sie bringt kein Wort über die Lippen, schlägt die Hände vors Gesicht, dann kommen ihr die Tränen. Für die 32-Jährige, die vor dem Schwurgericht des versuchten Totschlags angeklagt ist und die mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe hatte rechnen müssen, kommt die Wende in diesem Prozess völlig überraschend. Soeben hat der Vorsitzende Richter Roland Christiani das Urteil verkündet: Freispruch auf Kosten der Staatskasse. Damit ist klar: Lisa Z. (Verteidiger: Walter Rubach) hat sich in einer Notwehrsituation befunden, als sie ihrem Freund an Ostern ein Pizzamesser in die Brust stieß. Der Stich drang in die Lunge. Für das Opfer, 27, bestand akute Lebensgefahr. Überglücklich wird Lisa Z. nach achtmonatiger Haft im Aichacher Frauengefängnis in Freiheit entlassen und von ihren Bekannten und Freundinnen auf dem Gerichtsflur umarmt.
Wie ein roter Faden hat sich von Anbeginn an die Kernfrage durch diese mehrtägige Verhandlung vor der 8. Strafkammer des Landgerichts gezogen: Hat Lisa Z. bei einem Streit ihrem Freund mit dem Tode gedroht und dann absichtlich mit einem Messer zugestoßen? Oder war es doch Notwehr, als sie zum Pizzamesser griff, nachdem sie von ihrem Freund gewürgt und geschlagen worden war? Die 32-jährige Angeklagte mit langen, schwarzen Haaren hat ein teils leidvolles Leben hinter sich. Als Mädchen, drei oder vier Jahre alt, wurde sie von ihren Eltern sexuell missbraucht, die 1995 vom Landgericht zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Sie wuchs bei Pflegeeltern, später in einem Heim auf. Sie heiratete, wurde Mutter dreier Kinder, ehe sie ihren Freund, einen Ex-Häftling, kennenlernte und ihn in ihre Wohnung aufnahm. Von ihm bekam sie auch ein viertes Kind, das heute eineinhalb Jahre alt ist. Nach ihrer Inhaftierung lebten die ehelichen Kinder bei dem inzwischen von ihr geschiedenen Vater, das kleinste Kind, ein Mädchen, ist bei Pflegeeltern.
Die Beziehung zu einem Ex-Häftling verlief konfliktträchtig
Die etwa zweijährige Beziehung mit dem 27-Jährigen, der ihr leidtat, verlief offenbar äußerst konfliktträchtig. Immer wieder soll es Streit gegeben haben, der auch handgreiflich endete. Vor allem, wenn Alkohol im Spiel war. Eine Freundin der Angeklagten schildert im Zeugenstand, dass es einmal Streit gab, weil der Freund laute Musik hörte. Lisa Z. soll daraufhin den Strom abgedreht haben, worauf der Freund die Angeklagte gewürgt, an die Tür gedrückt und hochgehoben habe. Ein andermal habe er sie, als sie von ihm schwanger war, die Treppe hinabgestoßen. Es sollen auch immer wieder Gegenstände durch die Luft geflogen sein, Spielzeug, Flaschen, eine Rohrzange. Im Beisein von Rechtsanwältin Martina Sulzberger wird auch der elfjährige Sohn der Angeklagten als Zeuge vernommen, der zur Tatzeit allerdings bei einem Freund übernachtete. Er winkt seiner Mama im Gerichtssaal kurz zu, berichtet ebenso von Streitereien und körperlichen Übergriffen und dass seine Mama öfter betrunken gewesen sei.
Am Abend des Ostermontags war ein Streit eskaliert, weil der Freund nicht wollte, dass sich Lisa Z. in seine Familie einmischt. Wie die Angeklagte den Vorfall am ersten Prozesstag dem Gericht schilderte, habe ihr Freund zuerst den Laptop demoliert, ihr dann ins Gesicht geschlagen, sie mit der Hand am Hals gepackt und ihr dann eine Faust “in die Rippen gedonnert“. Ihr sei schwarz vor Augen geworden, sie habe Angst um ihr Leben gehabt und deshalb zu dem Pizzamesser gegriffen und dann zugestoßen. Die neun Zentimeter lange Klinge drang fünf Zentimeter tief in den Brustkorb ein und verletzte die Lunge. Das Opfer, das das Tatmesser noch selbst aus der Brust zog, sich dann auf allen Vieren nach draußen schleppte und einen Notruf absetzen konnte, musste im Uniklinikum notoperiert werden. Nach einer Woche konnte er das Krankenbett verlassen. Im Beisein seines Anwalts Thomas Reitschuster hatte der Freund im Zeugenstand die Angeklagte schwer belastet. Dass er sie mit Fäusten geschlagen habe, stimme nicht. Allenfalls habe er ihr „mal eine geknallt“.
Der Rechtsmediziner bestätigte die Schilderungen der Frau
Der Rechtsmediziner Florian Fischer allerdings, der die Angeklagte nach ihrer Festnahme untersucht hatte, bestätigt, dass die Verletzungen, die er bei Lisa Z. festgestellt hat, mit ihrer Version vom Tatgeschehen übereinstimmen. So wurden Spuren von Gewalt an den Lippen, am Hinterkopf, am Jochbein, an den Rippen und im Brustbereich entdeckt. Auch träfen Schilderungen von Symptomen auf ein Würgen zu. Die Rückrechnung von Werten der Blutproben ergab bei dem Opfer einen Blutalkoholwert von etwa 1,2 Promille zur Tatzeit, bei der Angeklagten von rund zwei Promille.
Ein möglicher Freispruch für Lisa Z. zeichnet sich schon während der Sitzung des Gerichts vergangene Woche ab. So fragt der Vorsitzende Richter Christiani Verteidiger Walter Rubach, ob die Angeklagte auf eine Haftentschädigung verzichten würde. Rubach bejaht. Seine Mandantin hat in der Haft auch eine kurzzeitige Geldstrafe abgesessen, sie hat sich stabilisiert in Gesprächen mit dem JVA-Psychologen. Nach dem Gutachten des Gerichtsmediziners Fischer geht dann alles schnell. Staatsanwalt Thomas Junggeburth verzichtet auf das Gutachten der forensischen Psychologin Verena Klein – ein eindeutiges Indiz, dass auch er nun einen Freispruch beantragen werde. Und so geschieht es. Ihm folgt in gleicher Weise Verteidiger Rubach. Nur Nebenklageanwalt Reitschuster fordert im Auftrag seines Mandanten eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags. Es sei ein strafbarer „Notwehr-Exzess“ gewesen.
Nach den Freispruchanträgen ist Lisa Z. so emotional aufgewühlt, dass sie zu einem „letzten Worte“ nicht imstande ist. Sie bekreuzigt sich. Nach nur wenigen Minuten der Urteilsberatung tritt die Kammer wieder in den Saal. Richter Christiani verkündet das Urteil „im Namen des Volkes“: Freispruch. „Sie haben es uns schwer gemacht“, spricht der Richter Lisa Z. direkt an, weist auf viele Widersprüche hin, die erst ihr Verteidiger entkräftet habe. „Wir haben die Situation im Büro nachgestellt und sind zu dem Ergebnis gekommen, wie es ihr Anwalt geschildert hat“, begründet Christiani. Der Prozess ist drei Sitzungstage eher als geplant zu Ende gegangen.