„Es ist der 28. April 1945. Ich marschiere mit der Dritten Infanteriedivision der US-Army in Augsburg ein, den Ort, in dem ich geboren wurde und die ersten 18 Jahre meines Lebens verbrachte. Ich sitze in einem der ersten Jeeps der vorrückenden amerikanischen Truppen, und meine Gedanken gehen zurück in die Zeit, als ich Augsburg zum letzten Mal sah“. Das sind Worte von Heinz Landmann (später Henry Landman), einem jüdischen Augsburger. Mit seiner Familie floh er vor den Nazis in die USA. Da wusste er noch nicht, dass er am Ende des Krieges als amerikanischer Soldat in Augsburg einmarschieren würde. Landman starb vor wenigen Monaten im Alter von 94 Jahren in der Nähe von New York.
So erinnerte er sich an Augsburg: „Es begann am 10. November 1938 – dem längsten Tag meines Lebens. Es ist 5 Uhr morgens. Die Türklingel läutet . Ich bin im Bett, als meine Tür aufgeht und zwei Fremde ins Zimmer treten. ,Sind Sie Heinz Landmann?’ Ich antwortete mit Ja! ,Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit, Sie stehen unter Schutzarrest’. Ich folge ihren Befehlen und sage ,Auf Wiedersehen’ zu meinen Eltern, die dort in ihren Nachtgewändern stehen und zittern, und ich verlasse die Wohnung an der Hermanstraße. Stumm gehe ich neben den beiden Gestapomännern her. Wir erreichen das Gestapo-Hauptquartier. Ich werde behandelt wie ein Krimineller, überstellt zum Gefängnis am Katzenstadel, und bevor der Tag zu Ende ist, werde ich durch das Tor mit der infamen Aufschrift „Arbeit macht frei“ in das Dachauer Konzentrationslager gestoßen und geschoben.
Mein Verbrechen – ich bin als Jude geboren. Ein Jahr später mit der Hilfe von Freunden, Verwandten und an Wunder grenzendem Glück passiere ich die Freiheitsstatue und betrete die Vereinigten Staaten von Amerika, um ein neues Leben zu beginnen. Ich bin frei und endlich daheim. Aber nicht lange. Nur zwei Jahre später fahre ich wieder an der berühmten Statue vorbei auf meinem Weg zurück nach Europa – als amerikanischer Soldat.
Jahre später. Weltkrieg. Ich schließe mich der 3. US-Infanterie-Division an, und der Krieg führt mich nach Sizilien, Anzio und Rom. Wir landen in St. Tropez in Frankreich, es geht das Rhonetal hinauf in die Vogesen, nach Straßburg und über den Rhein nach Deutschland. Schließlich, am 28. April 1945, betreten wir Augsburg. Unsere Panzer bewegen sich langsam durch Oberhausen. Der Widerstand ist gering. Ich folge in einem Jeep, und es ist als wäre ein schlechter Traum Wirklichkeit geworden. Ich komme an vielen vertrauten Plätzen vorbei: dem Familienbad, dem Schleifgraben, wo ich zum Eislaufen war, dem Realgymnasium (was davon übrig war), wo ich meine Erziehung erhalten hatte, dem Stadttheater, dem Königsplatz – das Haus, in dem ich so viele Jahre in der Maximianstraße C4 gelebt habe ist total zerstört – , Rathaus, Perlachturm und Jakobervorstadt. Überall, wohin ich schaue, dasselbe Bild: eine einst wunderschöne Stadt in Trümmern.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Es tut mir leid um die ganze Schönheit, die nicht mehr ist, und um einige Leute, die ich als anständig und als Anti-Nazis gekannt habe. Auf der anderen Seite bin ich erfreut, dass Hitlers willige Helfer die gerechte Strafe bekommen haben für ihre aktive aktive oder passive Beteiligung an der Zerstörung der Fuggerstadt. Ich erinnere mich an einen Freund meiner Eltern, der auch Besitzer des Gebäudes war, in dem wir unser Geschäft hatten. Er und seine Frau gehörten zu den wenigen anständigen Deutschen, die ihren jüdischen Freunden halfen und denen man trauen konnte. Sie leben im Thelott-Viertel. Ich finde ihr Haus. Ein großer Bombentrichter ist im Garten. Alle Fenster sind herausgeflogen, und es sieht nach einem verlassenen Haus aus. Ich klopfe an die Tür. Nach einer Weile öffnet sie sich. Ich bin der erste amerikanische Soldat in dieser Gegend und sie erkennen mich nicht. Als ich ihnen erzählt habe, wer ich bin, stehen Tränen in ihren Augen und wir umarmen uns.
Nachdem wir einander unterrichtet haben, wie es uns ergangen ist, geht mein Freund die Treppe hinauf und kommt mit einem Koffer meiner Tante zurück. Sie ließ ihn zurück, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde. Man hat nie wieder von ihr gehört. Ich öffne den Koffer und finde einen Brief, adressiert an ihre Tochter in Amerika, drin ein Bild von ihr mit all den Kleinigkeiten, die sie besaß. Es ist ein erschütternder Augenblick. Ich verlasse meine Freunde, schaue noch nach einigen anderen Menschen, die ich von früher kenne und kehre zu meiner Einheit zurück. Meine Gefühle sind erschüttert. Dieser Tag wird für immer in meinem Gedächtnis bleiben“.
Henry Landman war innerhalb von vier Monaten amerikanischer Staatsbürger gewesen. In der nicht allzu weit von New York entfernten amerikanischen Kleinstadt Ellenville organisierte er nach dem Krieg mehrfach Treffen ehemaliger jüdischer Jugendfreunde sowie einiger guter Bekannter aus seinen Augsburger Jahren. Die meisten von ihnen hatten in USA ihr neues Zuhause gefunden.