Die Flucht des Atom-Spions
Der Strafverteidiger Ralf Schönauer ist seit 1988 als Anwalt zugelassen – und von Anfang an in Augsburg tätig. Er war seither in vielen aufsehenerregenden Prozessen beteiligt und vertrat etwa in den vergangenen Jahren den pädophilen Kinderarzt Harry S., der Anfang dieses Jahres wegen Kindesmissbrauchs zu fast 13 Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt wurde. Schönauer braucht nicht lange zu überlegen, um sein außergewöhnlichstes Verfahren zu nennen. Das, sagt Schönauer, sei der „Atom-Spion“ gewesen. Karl-Heinz S., früherer Ingenieur von MAN, war in den 90er-Jahren vorgeworfen worden, das Atombomben-Programm von Iraks Diktator Saddam Hussein unterstützt zu haben. „Er ist dann verschwunden“, sagt Schönauer, setzte sich also ins Ausland ab, wo der Anwalt ihn mehrfach besuchte.
In Österreich wurde Schönauer einmal auch vorläufig festgenommen. Er hatte den Ingenieur treffen wollen, Fahnder der Polizei warteten nur darauf. Karl-Heinz S., sagt Schönauer, habe die Lunte aber gerochen und sei rechtzeitig abgehauen. Der „Atom-Spion“ floh nach Brasilien. Auch dort besuchte ihn Schönauer mehrfach. 1996 wurde der Ingenieur in Rio de Janeiro festgenommen und kam in Untersuchungshaft – wurde aber nicht nach Deutschland ausgeliefert, weil Brasilien dies ablehnte.
15 Monate saß Karl-Heinz S. in brasilianischer Untersuchungshaft, Schönauer sagt, er habe ihn rausgeboxt. Der Ingenieur kehrte später freiwillig nach Deutschland zurück. „Er wollte seine Mutter noch einmal sehen“, sagt Schönauer. Die Frau sei schwer krank geworden. Der Ingenieur wurde vom Bayerischen Landesgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt. Lange ins Gefängnis musste er aber nicht: Seine 15 Monate Untersuchungshaft in Brasilien wurden im Verhältnis eins zu drei angerechnet, also wie 45 Monate in einem deutschen Gefängnis behandelt.
Als Anwalt muss man mit heftigen Kriminalfällen umgehen – und mit Mandanten, die manchmal brutale Verbrecher sind. Das müsse man schon können, sagt Schönauer.
Ein Anwalt legt das Gericht lahm
Der Prozess an sich war nichts Besonderes. Doch die Folgen waren enorm. Ein Mann stand Mitte der 1980er Jahre in Augsburg vor Gericht, weil ihm Beihilfe zu einem Raub vorgeworfen wurde. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, eigentlich ein Routinefall. Doch Walter Rubach, seit dem Jahr 1977 in Augsburg als Strafverteidiger tätig, wagte bei diesem Verfahren einen Angriff auf die Augsburger Justiz, der ihm von manchem Richter und Staatsanwalt noch lange übel genommen wurde. Es ging um die Frage, ob die ehrenamtlichen Richter – also die sogenannten Schöffen – korrekt ausgewählt worden sind. Und ob die Politik in Augsburg auf die Schöffen-Auswahl einen zu großen Einfluss ausübt. Am Ende war die Augsburger Justiz monatelang lahmgelegt.
Begonnen hatte es so: Walter Rubach hatte erfahren, dass die Fraktions-Chefs im Augsburger Stadtrat die Laienrichter mitbestimmen dürfen. Er begann zu recherchieren und stieß auf unzulässige Manipulationen. Zwar ist es tatsächlich die Aufgabe von Stadt- und Kreisräten, Vorschlagslisten zu erstellen. Aber in Augsburg ging es weiter. Rubach fand heraus, dass auf der Vorschlagsliste der Stadt tatsächlich die Namen von zahlreichen Interessenten verzeichnet waren. Tatsächlich war die Liste dann aber von den Fraktionen im Stadtrat gewaltig frisiert worden. Die SPD, die CSU und die CSM – damals von der CSU abgespalten – stellten nach Proporz eigene Listen auf, auf denen überwiegend Parteimitglieder benannt waren. Das Gericht duldete dieses Vorgehen. Der zuständige Richter hatte die Vorschlagslisten zur „eventuellen Vorauswahl“ an die „Ausschüsse“ und „Fraktionen“ versandt.
Der Bundesgerichtshof gab Walter Rubach am Ende recht: Die von den Parteien manipulierten Listen waren rechtswidrig, die Schöffenwahl musste wiederholt werden. Und die Augsburger Strafjustiz war über Monate hinweg größtenteils zur Untätigkeit gezwungen. Anwalt Rubach ist überzeugt: „Das hat mir später viele wichtige Mandate eingebracht.“ Er verteidigte unter anderem den als Entführer der zehnjährigen Ursula Herrmann verurteilten Werner Mazurek. Das Kind starb in einer im Wald vergrabenen Kiste, in der es gefangen gehalten wurden. Außerdem vertrat er als Nebenkläger die Witwe des im Jahr 2011 in Augsburg ermordeten Polizisten. Wegen des Mordes im Stadtwald wurden die Brüder Rudolf Rebarczyk und Raimund Mayr zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast "Augsburg, meine Stadt" mit dem Strafverteidiger Walter Rubach an – unter anderem zu der Frage: "Warum verteidigen Sie Mörder und Sexualstraftäter?" Die Folge können Sie sich hier anhören:
Der erste Mord, ein prägender Fall
Marion Zech verteidigt nur selten Straftäter, fast immer steht sie in Gerichtsprozessen den Opfern zur Seite. Sie war in nahezu jedem großen Fall der vergangenen Jahre als Nebenklagevertreterin dabei, etwa beim Polizistenmord-Prozess, wo sie die verwundete Kollegin des erschossenen Beamten Matthias Vieth vertrat, die in der Tatnacht mit ihm unterwegs war. Oder Angehörige des Jugendlichen Murat Y., der sich im Jahr 2004 übers Internet mit zwei homosexuellen Männern zu einem Sex-Treffen verabredete und brutal ermordet wurde. Bei all den Fällen einen speziell hervorzuheben, sei schwierig, sagt sie heute. Aber der erste Mordfall, der habe sie als Anwältin schon geprägt. Es war der Mordfall Stephanie Karl, die 18-Jährige war im Dezember 1994 nach einem Disco-Besuch von einem 35 Jahre alten Mann erwürgt worden.
Zech sagt, sie sei damals früh im Verfahren kontaktiert worden und zu den Eltern nach München gefahren. „Die Fahrt war der Horror, ich hatte keine Erfahrung und keine Vorstellung, wie ich mit ihnen reden sollte“, sagt sie. Die Eltern seien freundlich und gefasst gewesen, das habe sie damals zunächst nur schwer begreifen können. Wie können Menschen mit so etwas umgehen? Heute sei ihr klar, dass es für die Eltern damals ein noch sehr frühes Stadium der Trauer war, die Erkenntnis über den Verlust noch nicht richtig durchgedrungen war. „Ich habe mit den Eltern viel Zeit verbracht, ich habe die ganzen Stadien erlebt, das hat mir für spätere Fälle unheimlich viel gebracht“, sagt Zech.
Wie der Fall Nathalie Astner, ein siebenjähriges Mädchen aus einem Dorf in Oberbayern, die 1996 vom damals 27-jährigen Armin S. auf dem Schulweg entführt, missbraucht und ermordet wurde. „Das Dorf – eine Idylle, und die Eltern ganz liebe Leute. Und dann bricht das Verbrechen da ein.“ Manche Täter, die für besonders brutale Verbrechen verantwortlich sind, sitzen später „wie ein Häufchen Elend“ auf der Anklagebank. Voller Mitleid für sich selbst, das sie gegenüber den Opfern nie hatten.
Er tötet die Mutter – weil er nicht von ihr loskommt
Er wusste sich offenbar nicht anders zu helfen: Im Jahr 2003 erwürgt ein 43-jähriger Maurer seine 73-jährige Mutter. Es ist ein Streit beim Frühstück, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Der Sohn stürzt sich auf seine Mutter und würgt sie so heftig, dass ihr Kehlkopf mehrfach bricht. Wie kann sich so viel Wut in einem Menschen aufstauen? Diese Frage stellt sich auch Klaus Rödl, der damals als Anwalt den 43-Jährigen vertritt. Es zeigt sich: Mutter und Sohn kamen nicht voneinander los, es gelang dem Sohn nicht, sich abzunabeln. So blieben sie in einer Art Hassliebe gefangen.
Da Mutter und Sohn sich jahrzehntelang das Leben zur Hölle gemacht hatten, wertet das Gericht die Tat als Totschlag und verhängt neun Jahre Haft. Zwei Jahre weniger, als vom Staatsanwalt beantragt. Richter Wolfgang Rothermel nennt das Mutter-Sohn-Verhältnis eine „unheilvolle Allianz“. Der Angeklagte und Zeugen erzählten die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater früh verlor und sich nicht von der Mutter abnabeln konnte. Er musste sich gefallen lassen, dass sie die Post durchsah, seine Geldbeutel kontrollierte und ihn ständig schlecht machte. „Sie behandelte ihn mit 40 nicht anders als mit 14“, sagt Rödl. Drei Wochen lebte der 43-Jährige noch neben der Leiche in der Wohnung. Erst dann flog die Tat auf, weil seine Mutter vermisst wurde.
Rödl verteidigte zuletzt Stefan E., der im April für den Mord an der Prostituierten Angelika Baron im Jahr 1993 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Rödl ist gegen das Urteil in Revision gegangen.
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.