Hunger, Gewalt, ein Leben in der Dunkelheit von Kellern oder Bunkern: All das beschreibt derzeit den Blick auf die Ukraine. Was macht ein derartiges Umfeld mit der kindlichen Seele?
OLENA YAMRENKO: Diese gewaltige Bedrohung in Form von Krieg trifft die gesamte Persönlichkeit - ob es nun innere Bilder, die Gefühle, das Verhalten oder die Familienstrukturen sind. Eine solche existenzielle Bedrohung, ohne die Möglichkeit ihr zu entkommen, trifft vor allem die Verletzlichsten und Sensibelsten - die Kinder. Dabei reagiert jedes von ihnen unterschiedlich. Einige bleiben verschlossen, manche isolieren sich von allem und jedem, andere werden schüchtern, hyperaktiv oder aggressiv. Die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse auf die Psyche eines Kindes hängen deshalb auch von der rechtzeitigen Bereitstellung Erster Hilfe und Unterstützung ab.
Wer kann diese Erste Hilfe leisten?
YAREMKO: Es ist selbstverständlich, dass Eltern und Erwachsene diejenigen sein sollten, die dem Kind Schutz und Sicherheit sowie bedingungslose Akzeptanz garantieren. Für viele Ukrainer, die ihre Heimat verlassen mussten und unter anderem in Deutschland vorübergehend Zuflucht suchten, ist Stabilität durch Gemeinschaft, Freunde, Verwandte und Bekannte ein wichtiger Faktor.
Die hilfesuchenden Augen eines Kindes, die in die Gesichter von Fernsehzuschauern blicken, sind zum Symbol für das Leid geworden, das sich viele Menschen in Europa nicht vorstellen konnten. Welche Auswirkungen wird das Erlebte haben?
YAREMKO: Auch wer nicht unmittelbar betroffen ist, kann seelischen Schaden nehmen. Die Hilfe suchenden Augen des Kindes können stellvertretend für persönliche Erfahrungen stehen - für Hilflosigkeit, Schwäche, Abhängigkeit, Erniedrigung. Automatisch ablaufende Notfallreaktionen auf sogenannte Trauma-Trigger fasst die Psychologie unter dem Begriff "Fight-Flight-Freeze" zusammen. Übersetzt heißt das "Kampf-Flucht-Erstarrung". Diese Reaktionen reichen von Wütendwerden, Leugnen bis zu Versteinern.
Woran lassen sich die Folgen eines Kriegstraumas erkennen?
YAREMKO: Nach traumatischen Ereignissen zeigen sich sowohl körperliche als auch emotionale Reaktionen. Dazu gehören etwa Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Wut. Häufige Anzeichen sind auch sozialer Rückzug, quälende Erinnerungen, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Interessensverlust oder Konzentrationsprobleme. Das zeigt, dass die Psyche noch Zeit braucht, um das Geschehene zu verarbeiten.
Was verschafft Linderung?
YAREMKO: Traumatisierte Flüchtlinge brauchen Erfahrungen des Vertrauens in sich und andere. Dazu gehören Geborgenheit, Schutz und Sicherheit, die durch die Kriegerlebnisse empfindlich gestört wurden. Schon zu Beginn der Verarbeitung extremer Erlebnisse kommt es im Wesentlichen darauf an, das Selbstwirksamkeitserleben zu fördern. Das hilft den Betroffenen, aus ihrem Überlebensmodus herauszukommen. Die Ankunft in einer sicheren Umgebung und die verlässliche Anwesenheit von Bezugspersonen sind dafür die wichtigsten Voraussetzungen.
Haben Sie in Ihrer Online-Praxis als Psychologin bereits Hilfesuchenden aus Ihrer Heimat helfen können?
YAREMKO: Die Zahl der Anträge auf psychologische Hilfe wächst täglich. In der Regel sind das Ukrainer und Ukrainerinnen, denen die Ausreise in den ersten Kriegswochen gelungen ist. Nach Klärung formaler Fragen im Zusammenhang mit der Registrierung in Deutschland beginnen sie ihre Erfahrungen zu begreifen und erkennen, dass sie psychologische Hilfe benötigen.
Sie haben an der Nationalen Universität Lwiw studiert. Wie tief sitzt bei Ihnen der Schock über die Bilder, die wir im Fernsehen mitverfolgen können?
YAREMKO: Ich persönlich habe keinen Fernseher zu Hause und versuche, die in sozialen Netzwerken verbrachte Zeit zu begrenzen. Das systematische Betrachten von Videos und Fotos sowie die erneute Vergegenwärtigung der Geschichten von den Kriegszeugen in der Ukraine kann sehr destabilisierend wirken. Ich laufe deshalb nicht vor der Realität davon, aber ich versuche mich auf die Bereiche zu konzentrieren, wo ich Einfluss nehmen kann.
Ich nehme an, das sind der Ukraine-Verein Augsburg und die Samstagsschule für ihre Landsleute?
YAREMKO: Ja, jeden Samstag leisten wir seit 5. März in Augsburg die notwendige sozialpädagogische und psychologische Hilfe für die schutzsuchenden Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine. 150 Kinder und Jugendliche sind zwischenzeitlich angemeldet. Neben Unterricht in der Muttersprache bieten wir ein integratives Spieleangebot, Sport und Bewegung sowie Kunst und Therapie-Workshops. Außerdem unterstützen wir mit alltäglichem Bedarf - etwa kostenloser Kleidung und Haushaltsgegenständen. Die Sammelstelle befindet sich in der Hochfeldstraße 63 und ist mittwochs und donnerstags von 10 bis 15 Uhr geöffnet. Wichtig ist, die Schutzsuchenden abzuschirmen, ohne sie zu isolieren.
Zur Person
Dr. Olena Yaremko, 39, lebt seit 2011 mit ihrer Familie in Augsburg. Sie ist Mutter von vier Kindern, psychologische Beraterin und Vorsitzende des Ukrainischen Vereins Augsburg. Zudem leitet sie die Ukrainische Samstagsschule im Stadtteil Göggingen.