An einem Abend im März 2019 legte sich Christof S. auf eine Parkbank. Sein Mietvertrag in der betreuten Azubi-Wohnung bei Kolping war ausgelaufen. Er schlief im Park am Roten Tor. Einfach so, ohne Schlafsack. Es war kalt, in seinem Rucksack steckte nicht viel mehr als Handy und Ladekabel. Für neun Monate wurde dieser Park sein Zuhause. Wenn es regnete, legte er sich in die Unterführung mit den bunten Graffitis. Er war obdachlos. „Es war eine sehr, sehr schlechte Zeit“, sagt er. Er spricht offen, reflektiert, die Gedanken sortiert.
Niemand, den man nachts in einer Unterführung vermuten würde. Freunde versorgten ihn ab und zu mit Essen und luden sein Handy auf. „Aber die hatten selbst nichts, ich wollte sie nicht übermäßig in Anspruch nehmen.“ Zu anderen Obdachlosen hatte er keinen Kontakt. „Irgendwann fällt einem gar nicht mehr auf, dass man alleine ist.“ Oft blieb er Tage hungrig. Passanten sprach er dennoch nicht an: „Sie hatten mit meinem Problem ja nichts zu tun. Damit musste ich selbst fertig werden.“
Anna Zott kümmert sich bei der Diakonie um Obdachlose in Augsburg
Anna Zott kennt sich in den Niederungen der Augsburger Gesellschaft aus. Also dort, wohin man abrutschen kann, wenn einen das Leben aus der Wohnung wirft. Sie ist Sozialpädagogin der Diakonie und arbeitete bereits in der städtischen Obdachlosenunterkunft Röslestraße, im Bodelschwingh-Haus der Diakonie und im Springergässchen bei der Beratungsstelle für Haftentlassene. „Christof ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Wege in die Obdachlosigkeit sein können“, sagt die erfahrene Sozialarbeiterin.
Unter Kollegen gehe man derzeit von 30 bis 50 Menschen aus, die auf der Straße leben. Darunter Jugendliche, die mit der Volljährigkeit von ihren Eltern auf die Straße gesetzt worden sind. Angehörige, die ihre Eltern pflegten und nach deren Tod die Miete der gemeinsamen Wohnung nicht mehr zahlen könnten. Oft bleibt am Ende einer Kette von Mahnungen, Rechnungen und Gerichtsvollziehern, die nicht nur das Inventar der Wohnung, sondern auch den Schlüssel mitnehmen, nur das Zelt im Gebüsch an der Wertach.
Seit 2018 wurden die städtischen Obdachlosenunterkünfte ausgebaut
Zuständig für von Wohnungsnot bedrohte Menschen ist die Stadt. Bürger mit Wohnsitz in Augsburg haben einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft. Seit 2018 hat die Stadt die Obdachlosenunterkünfte ausgebaut und differenziert. Unter anderem modernisierte das Sozialreferat die Häuser in der Johannes-Rösle-Straße, der Bärenstraße und im Hochfeld, brach die Einrichtung im Fischerholz ab und ergänzte sie durch die Neuplanung am Westendorfer Weg, reduzierte die Zimmerbelegungen der Notunterkünfte, eröffnete eine neue Frauenunterkunft in Pfersee (22 Plätze) und funktionierte die Johannes-Rösle-Straße (80 Plätze) in eine reine Männerunterkunft um.
Den Betrieb dieser beiden Häuser übergab sie an die Profis vom Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) und Sozialdienst Katholischer Frauen. Erst seitdem gibt es in jeder Einrichtung auch je eine sozialpädagogische Fachkraft. In den städtischen Einrichtungen und Wohnungen sind derzeit 134 Menschen untergebracht.
Christof S. landete wegen Schwarzfahrens im Gefängnis
Christof S. hat es inzwischen in eine Wohngemeinschaft des SKM geschafft. Nach zwei Angriffen in der Unterführung durch Jugendliche, die ihn verprügelten, filmten und sein Handy entwendeten, seien es zwei Polizisten gewesen, die ihm wieder ein Dach über dem Kopf verschafften. Bei der Kontrolle stellten sie fest, dass gegen ihn ein Haftbefehl wegen drei Mal Schwarzfahrens vorlag. Weil er die Geldstrafe noch immer nicht bezahlen konnte, landete er in Gablingen. „Komisch ist das schon im Gefängnis, man hat ja so nichts Böses gemacht. Aber ich war sehr, sehr dankbar für die Sicherheit und das warme Bett“, sagt er.
Im Gefängnis fand er endlich den Zugang zum sozialen Netz. Man vermittelte ihn ins Bodelschwingh-Haus der Diakonie für die Wiedereingliederung ehemaliger Häftlinge. Viel musste man ihm dort nicht beibringen, erklärt Christian Müller, Leiter des Bodelschwingh-Hauses. Er hatte sein geregeltes Leben nur kurz verloren, einen Realschulabschluss und eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement in der Tasche. Doch Corona, Lockdowns und Kontaktverbote hatten in diesen zwei Jahren alles lahmgelegt, er fand weder Arbeit noch eine günstige Wohnung.
Günstige Mietwohnungen werden in Augsburg zur Seltenheit
Leichter wird die Suche nicht werden. In diesem Jahr ließ die Stadt den Markt für günstige Mietwohnungen, die den Obergrenzen für Sozialhilfe- und Hartz 4-Empfänger entsprechen, untersuchen, jenem Marksegment, in dem auch S. nach einer Bleibe sucht. Die Ludwig-Maximilians-Universität in München wertete die Angebote im Immobilienmarkt unserer Zeitung und auf dem Portal immoscout24.de aus und stellte fest: Die Zahl der Wohnungen ab 64 Quadratmetern, die die Vorgaben zur Mietobergrenze erfüllten, sank von zehn auf null. Auch kleinere Wohnungen für Ein-Personen-Haushalte sank von 16 im Januar auf sechs im Oktober, Tendenz sinkend.
Christof sucht jetzt wieder intensiv. Wie läuft es? „Schwierig, ich muss ja Arbeit und Wohnung gleichzeitig finden. Oft gibt es das eine nicht ohne das andere“, sagt er. War er schon mal wieder bei der Unterführung am Roten Tor? Das freundliche, fröhliche Gesicht fällt kurz in sich zusammen. „Nein, da gehe ich nicht mehr hin“, sagt er knapp. Die Zeit will er hinter sich lassen. Aber der 30-Jährige erzählt von ihr, auch in der Öffentlichkeit. Bei Veranstaltungen der Diakonie berichtet er, wie das ist, ein Leben im Park. Wie es ist abzustumpfen, keine Menschen mehr zu haben. Vor allem den Menschen in ähnlichen Lebenslagen will er damit zeigen: Es geht auch ein Weg wieder raus.