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Augsburg: "Mensch ärgere dich nicht": Was Seniorinnen ärgert

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"Mensch ärgere dich nicht": Das treibt Augsburger Seniorinnen um

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    Ehrentraud Berger, Waltraud Wybrial und Gutrun Wittmann (vorne, von links nach rechts) essen jede Woche gemeinsam mit anderen Senioren im Sozialzentrum in Augsburg-Hochfeld.
    Ehrentraud Berger, Waltraud Wybrial und Gutrun Wittmann (vorne, von links nach rechts) essen jede Woche gemeinsam mit anderen Senioren im Sozialzentrum in Augsburg-Hochfeld. Foto: Tabea Kingdom; Federico Gambarini, AP/dpa; Collage: AZ

    Waltraud Wybrial würfelt. Es ist wieder keine Sechs. "Mensch ärgere dich nicht" gehört nicht zu den Lieblingsspielen der 90-Jährigen. Nach wenigen Minuten fragt die Augsburgerin, warum wir nicht Rummikub spielten. Zu Hause habe sie einen Schrank voll mit Brettspielen. Wir bleiben bei "Mensch ärgere dich nicht". Das Spiel zieht sich zu Beginn. Viel passiert erst mal nicht. 

    Der Spielklassiker feiert dieses Jahr seinen 110. Geburtstag. 100 Millionen Exemplare wurden nach Angaben von Schmidt Spiele mit Sitz in Berlin bisher verkauft. Anlass genug, um Seniorinnen und Senioren zu fragen, worüber sie sich im Leben geärgert haben – und heute noch ärgern. 

    Das Brettspiel "Mensch ärgere dich nicht" wird heuer 110 Jahre alt.
    Das Brettspiel "Mensch ärgere dich nicht" wird heuer 110 Jahre alt. Foto: Maia Hohlen

    Wybrial gibt den Würfel an ihre Sitznachbarin Ehrentraud Berger weiter. Diese erinnert sich, dass sie sich als Kind immer schrecklich geärgert habe, wenn sie bei dem Spiel herausgeschmissen wurde. Worüber sie sich als Jugendliche oder junge Frau aufgeregt habe, darauf hat die 85-Jährige keine Antwort. Sie zieht die Schultern nach oben. Auch ihre Mitspielerinnen Waltraud Wybrial und Gutrun Wittmann fällt auf Anhieb erst mal nichts ein. Nach so langer Zeit sind ihnen eher andere Emotionen im Gedächtnis geblieben.

    Brettspiel "Mensch ärgere dich nicht" feiert 110. Geburtstag

    Die Frauen kommen jede Woche am Freitag in das Sozialzentrum Römerhof des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB) in Augsburg-Hochfeld zum Mittagessen. Etwa 25 ältere Menschen essen dort für fünf Euro pro Person. "Die meisten sind alleinstehend", sagt Koordinatorin Viktoria Gajer. Werbung für den offenen Mittagstisch macht sie nicht mehr, der Treff ist komplett ausgebucht. Die Seniorinnen und Senioren müssen sich vorab anmelden. Es gibt drei Gänge zum Essen – und manchmal zu besonderen Anlässen einen Schnaps. 

    Bei ihren Treffen essen und sprechen die Frauen miteinander. Auch das Spielen gehört dazu. Die Runde "Mensch ärgere dich" pausiert, als Wittmann beginnt, über die Vertreibung ihrer Familie aus dem Sudetenland zu erzählen. Das interessiert die Tischnachbarin. Wittmann kam als Kleinkind nach Mecklenburg-Vorpommern. Als Jugendliche floh sie noch vor dem Bau der Mauer aus der DDR nach Augsburg. Als sie davon spricht, verspürt man keinen Ärger und keine Wut bei der heute 83-Jährigen. "Da saßen wir auf Kisten. 50 Kilo durfte man mitnehmen", erklärt Wittmann. Wybrial versteht Wittmann, auch sie wurde aus dem ehemaligen

    Ärger über junge Menschen, Donald Trump und die AfD

    Heute, fast 80 Jahre später, leben die Frauen in Augsburg-Hochfeld. Alle drei noch in der eigenen Wohnung. So lange wie möglich möchte Ehrentraud Berger dort bleiben. So geht es auch den anderen beiden Frauen am Tisch: In ein Altenheim will keine, auch über ambulante Pflegedienste erzählen sie sich während des Spiels nur wenig Gutes. Berger betont immer wieder: "Es gibt solche und solche". 

    Der gleiche Satz fällt, als es später um junge Menschen geht. "Die Jungen passen doch auf uns sowieso nicht auf. Da hört keiner mehr auf uns", sagt Waltraud Wybrial. Berger verbessert ihre Sitznachbarin, es gebe eben solche und solche. "Wir haben schon junge nette Leute, dann andere natürlich auch", findet Berger. 

    Aber sie sagt auch: "Uns ist es nicht so gut gegangen wie den Kindern heute. Wir haben besser folgen müssen." Und trotzdem, oder gerade deshalb, sei etwas aus ihnen geworden. Als sie erzählt, geht es mehr um Schmerzhaftes als um Ärger. Sie berichtet davon, wie sie mit 14 Jahren bereits Vollwaise war, wie sie für die Lehre von zu Hause wegmusste, wie sie mit dem Heimweh kämpfte und davon, dass ihre Schwester kurz vor ihrer Hochzeit starb. 

    Die Tische leeren sich langsam, die Mitarbeitenden des Sozialzentrums räumen das Geschirr zusammen. Die Stühle knarzen, das Geschirr klirrt, die Besucher verabschieden sich voneinander. Doch die kleine Runde am Spielbrett bleibt noch sitzen. Schon seit einer Weile interessiert sich niemand mehr für "Mensch ärgere dich nicht". Das Gespräch dreht sich nun nicht mehr nur um vergangene Sorgen und früheren Schmerz, sondern um das Jetzt und Heute. Es geht um Donald Trump, Kriege und die AfD. Die Frauen ziehen historische Vergleiche.

    Augsburgerin stand als junges Mädchen Adolf Hitler gegenüber

    Waltraud Wybrials Stimme hebt sich. Sie erinnert sich an einen Tag in ihrer Kindheit: Als junges Mädchen im Sudetenland bekam sie weiße Schleifen ins Haar gebunden, sie hielt weiße Blumen in der Hand. Herausgeputzt für Adolf Hitler bei einer Parade in ihrem Dorf. Die Erinnerungen daran lassen sie immer noch schaudern. Ihre Mimik ist ernst, als sie von dem Erlebnis erzählt. Die Seniorin versteht nicht, warum sich das wiederholt: "Wenn der Trump wiederkommt, dann ist es aus", sagt die 90-Jährige.

    Sie ärgert sich, nicht über das, was früher war, sondern über die aktuelle politische Lage. "Die Jungen wären jetzt dran", sagt die Augsburgerin. Auf die Alten würden die Jungen aber eben nicht hören. Wybrial versteht auch nicht, warum rechte Parteien wie die AfD wieder im Aufwind stehen. Als sie darüber spricht, haut sie auf den Tisch und schüttelt immer wieder den Kopf.

    Das Gespräch könnte vermutlich noch Stunden weitergehen. Doch die Getränke sind leer, die Tische abgeräumt. Nach zwei Stunden schließt der Mittagstisch, die Senioren gehen meist wieder alleine nach Hause. Auf dem "Mensch ärgere dich nicht"-Spielfeld sind keine Figuren in den Häuschen angekommen. Gewonnen hat heute keiner, verloren aber auch nicht. Immerhin kein Grund zum Ärgern. 

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