Startseite
Icon Pfeil nach unten
Augsburg
Icon Pfeil nach unten

Augsburg: Leben in der Notunterkunft – zwischen Schlafmangel und Inseln der Normalität

Albina, Vera, Lira, Carolina (von links) und der achtjährige Vlad teilen sich ein Zimmer in der Notunterkunft.
Augsburg

Leben in der Notunterkunft – zwischen Schlafmangel und Inseln der Normalität

    • |

    Juliana sitzt auf einem Stuhl in einem Durchgang und genießt es sichtlich, wie Nataliy ihr mit Kamm, Schere und Rasierer einen schicken Kurzhaarschnitt verpasst. Auch wenn die Ukrainerin derzeit in der Notunterkunft auf dem Fujitsu-Areal lebt, will sie gepflegt aussehen. Und die gelernte Friseurin Nataliy, die wie ihre Landsfrau in dem ehemaligen Firmengebäude Kost und Logis erhält, ist froh über die vertraute Beschäftigung. Für eine halbe Stunde tauchen die beiden Frauen in ihr altes Leben in der Heimat ein. Sie verdrängen, dass sie hier mit mehr als 200 Menschen – vom Säugling bis zur Seniorin – auf engem Raum leben.

    Nataliy schneidet ihrer Mitbewohnerin Juliana in einem Durchgang die Haare.
    Nataliy schneidet ihrer Mitbewohnerin Juliana in einem Durchgang die Haare. Foto: Silvio Wyszengrad

    Eigentlich ist die Notunterkunft am Impfzentrum mit ihren gut 300 Plätzen nur als Übergangslösung für Geflüchtete aus der Ukraine gedacht. Waren in der Anfangszeit meist um die 80 bis 90 Menschen dort untergebracht, bewegt sich ihre Zahl laut Einrichtungsleiter Fabian Herzog von den Johannitern seit geraumer Zeit stabil über 200 – darunter überwiegend Frauen, Jugendliche und Kinder. Der Grund: Die Verlegung gehe nicht so schnell, wie neue Geflüchtete hinzukämen. Dabei handle es sich nicht nur um Neuankömmlinge, sondern auch um Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits länger in Augsburg sind. "Etwa die Hälfte derjenigen, die wir aufnehmen, war vorher in anderen Unterkünften oder privat untergebracht", sagt Herzog.

    Die Oma will in die Ukraine zurück, die anderen wollen hierbleiben

    So auch die Familie von Lira, die sich mit ihren beiden Kindern, ihrer Mutter und ihrer Schwester seit mehreren Monaten ein Zimmer in der Sammelherberge teilt. Sie hätten zunächst bei Verwandten gelebt, erzählt die zierliche 40-Jährige. Dass dort das Zusammenrücken auf Dauer nicht möglich war, macht Lira niemandem zum Vorwurf.. "Ich bin hier mit der Situation zufrieden, aber es wäre schön, eine eigene Wohnung zu haben." Die Familie, die aus der Nähe von Odessa stammt, durchlebt ein Wechselbad der Gefühle, wird mit vielen offenen Fragen konfrontiert: Die Oma will wieder in die Heimat zurück, während der Rest zum Hierbleiben neigt, obwohl ein Teil der Familie noch in der Ukraine ist. Carolina, 14, und ihr Bruder Vlad besuchen die Schule. Vor allem der Achtjährige scheint seinen Vater schmerzlich zu vermissen. Er weicht Herzog und seinem Kollegen Sergej Fink kaum von der Seite, so stark scheint die Sehnsucht nach einer männlichen Bezugsperson zu sein.

    Blick in den großen Schlafsaal der Notunterkunft: Das Handy ist für die Geflüchteten aus der Ukraine die einzige Verbindung in die Heimat.
    Blick in den großen Schlafsaal der Notunterkunft: Das Handy ist für die Geflüchteten aus der Ukraine die einzige Verbindung in die Heimat. Foto: Silvio Wyszengrad

    Mit Fink spricht Vlad Russisch und Ukrainisch, denn der stellvertretende Einrichtungsleiter beherrscht neben Deutsch auch diese beiden Sprachen fließend. Er kann dolmetschen und klarstellen, wobei sich aus seiner Sicht problematische Situationen in Grenzen halten: "Die meisten hier sind dankbar und zufrieden", betont Fink. Auch Lesia will nicht jammern, obwohl Privatsphäre für die Ukrainerin und ihre mitgeflüchtete Schwester und Tochter seit Wochen ein Fremdwort ist. Wie die meisten anderen in dem großen Saal mit rund 200 Schlafplätzen hat die Familie ihre Stockbetten mit Decken, Handtüchern und Kleidungsstücken behängt, um sich wenigstens ein Stück weit von den Nachbarn abschotten zu können.

    Im Schlafsaal der Augsburger Notunterkunft herrscht um 22 Uhr Nachtruhe

    Untertags ist der riesige Raum nur spärlich belegt, weil viele Menschen laut Herzog das schöne Wetter für Spaziergänge, einen Stadtbummel oder Freibadbesuch nutzen. Abends jedoch füllt sich der Saal immer mehr. Die Fenster sind geschlossen. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren, um den Aufenthalt auch bei den Sommertemperaturen erträglich zu machen. "Ich kann hier schlafen", sagt Lesia. Offiziell herrscht in dem Saal um 22 Uhr Nachtruhe, das Licht wird gelöscht. Wer dann nicht müde ist, kann etwa im Aufenthaltsraum noch fernsehen oder mit dem Handy daddeln. Ob Seniorin oder Teenager – alle hüten ihr Smartphone wie einen Schatz, ist es doch ihre einzige Verbindung zu den in der Heimat Zurückgebliebenen. Sorge, dass dem Gerät der Saft ausgeht, brauchen sie nicht zu haben. "Es gibt hier 364 Steckdosen", sagt Fabian Herzog.

    Sergej Fink (links) und  Fabian Herzog von den Johannitern leiten die Unterkunft auf dem Fujitsu-Areal.
    Sergej Fink (links) und Fabian Herzog von den Johannitern leiten die Unterkunft auf dem Fujitsu-Areal. Foto: Silvio Wyszengrad

    Auch an Toiletten, Duschen und Waschbecken mangelt es dank zusätzlich auf dem Gelände aufgestellter Sanitärcontainer nicht. Die sind zwar spartanisch ausgestattet, erfüllen aber ihren Zweck. Mit einem gepflegten Äußeren – auch Waschmaschinen und Trockner gibt es – bewahren sich die Geflüchteten ihre Würde. Direkt vor den Containern hält ein Mann vom Sicherheitsdienst die Stellung. Bislang sei alles ruhig geblieben, sagt Herzog. Das hänge sicher auch mit der homogenen Zusammensetzung der Untergebrachten zusammen.

    Natalies Mann blieb wegen der Haustiere in der Ukraine

    Zur Ablenkung gibt es Spiele zum Ausleihen, mehrmals die Woche werden Sportaktivitäten angeboten. Eine Tischtennisplatte steht bereit. Wer sich – vor dem professionellen Deutschkurs – ein wenig mit der fremden Sprache vertraut machen will, hat dazu mehrmals die Woche Gelegenheit. Johanniter-Mitarbeiterin Nicola Treichel schart die Interessierten um sich. "Wir stimmen ab, was wichtig ist. Heute ging es ums Essen und Trinken." Eine große Hilfe bei jeder Lektion ist ihr die 72-jährige Natalie. Die Frau, die ebenfalls als Geflüchtete in der Unterkunft lebt, hat in der Ukraine Deutsch gelernt. Noch immer beherrscht sie die Fremdsprache ausgezeichnet. Mit ihrer Enkelin hat die ältere Frau ihr Dorf in der Nähe von Kiew verlassen. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von zerstörten Häusern in der Nachbarschaft. "Ich möchte wieder zurück", sagt sie. Auch um ihren Mann wieder in die Arme zu schließen. Eigentlich hätte er aufgrund seines Alters ebenfalls dem Krieg entfliehen können, es gab jedoch einen triftigen Hinderungsgrund. "Wir haben einen Hund und sechs Katzen. Die konnten wir nicht mitnehmen, also ist er geblieben." Natalie versucht zu lächeln, doch ihre Augen verraten, wie traurig sie ist.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden