„Die Eingemeindung war bereits 1972 und trotzdem hab man manchmal das Gefühl, uns kennt keiner“, berichtet Chris König. Wenn sie in Gesprächen erzählt, dass sie in Neubergheim wohnt, wird sie oft korrigiert: „Du meinst Bergheim.“ Dann muss die 47-Jährige Aufklärungsarbeit leisten: Sie hat sich nicht versprochen und weiß durchaus, wo sie lebt – nämlich in Neubergheim. Unsichtbar auf der Landkarte ist dieses Fleckchen innerhalb von Augsburg zwar nicht, doch tatsächlich ist es extrem klein geraten.
Offiziell ein Ortsteil von Bergheim, liegt Neubergheim zwischen dem Hauptort Bergheim und Göggingen. Knapp 500 Einwohner und lediglich fünf Straßen kann Neubergheim vorweisen. Einen Kindergarten sucht man hier ebenso vergeblich wie eine Schule. „Als ich klein war, gab es hier noch zwei Tante-Emma-Läden“, erinnert sich Maria Nefzger. Die Eltern der 56-Jährigen zogen 1963 nach Neubergheim. Wer einkaufen will, muss nun zum Supermarkt nach Bergheim. Immerhin: Es gibt einen Spielplatz.
Doch auch wenn die Neubergheimer Infrastruktur auf den ersten Blick nicht nach dem Traum jedes Maklers klingt, sind die Bewohner begeistert von ihrem Ort. Wer hier wohnt, will nicht mehr weg. Fragt man die Menschen, woran das liegt, ist die meistgenannte Antwort: der Zusammenhalt untereinander. „Die Nachbarn halten zusammen wie Pech und Schwefel“, schwärmt Chris König, die mit ihrem Mann 2018 hier gebaut hat. Nur rund 300 Wohneinheiten sind über die Fläche verteilt.
Das Geheimnis von Neubergheim: jeder grüßt jeden
Dass der Ortsteil so klein ist, schweißt die Bewohner zusammen. „Jeder grüßt jeden“, berichtet Elsa Gartenmeier. „Die vorigen Generationen haben uns das vorgelebt“, sagt die 82-Jährige. Im ganzen Jahr werden immer wieder Veranstaltungen organisiert. Vom Straßenfest und Straßenflohmarkt im Sommer bis zum Martinsumzug und Adventskonzert. „Die Eigeninitiative ist immer wieder schön zu beobachten“, sagt Verena Becker-Heigl. „Man muss hier niemandem eine Aufgabe aufs Auge drücken, sondern alles geschieht wie von Geisterhand – jeder bringt etwas mit, wie bei einem Treffen von Freunden.“
Früher war das einzige Wirtshaus „Zum Weißen Rössl“ das Herzstück des sozialen Miteinanders. Das 1935 errichtete Gebäude Am Neubruch war das erste gemauerte Haus des Ortes. 2016 wurde es abgerissen, weil es marode war. An der Stelle wurde ein Einfamilienhaus gebaut. Der Bauherr war früher Stammgast im Gasthaus. Heute wohnen seine Kinder hier. Was die Einwohner heute mit augenzwinkerndem Humor als ihren „Dorfplatz“ Am Neubruch bezeichnen: zwei Bäume, dazwischen eine Sitzbank.
Die Kommunikation funktioniert über WhatsApp
Doch das eigentliche Zentrum des Neubergheimer Soziallebens findet sich in der virtuellen Welt: Die WhatsApp-Gruppe des Ortsteils hat knapp 70 Mitglieder, die sich regelmäßig austauschen – nicht nur über die Organisation der Neubergheimer Veranstaltungen. „Der eine braucht Spiralstangen für die Tomaten, die andere hat Lebensmittel übrig. Eine Fahrgemeinschaft wird gesucht, verlorene Gegenstände gezeigt, ein Haustier ist entlaufen“, nennt Georg Mayer einige Beispiele für die digitale Nachbarschaftshilfe.
„Wir sind hier so eine Art Insel“, sagt Willi Heider über Neubergheim. Er ist der Vorstand der Siedlergemeinschaft, deren Wurzeln bis ins Jahr 1951 zurückreichen. Bei der Gründung ging es den Initiatoren noch um den Austausch von Garten- und Haushaltsgeräten oder Saatgut. Ein anderer Grund war die Idee, dass das kleine Neubergheim gegenüber der Stadtverwaltung als Gemeinschaft mehr erreichen könne, erklärt Heider. „Auf diese Tradition baut auch die jetzige Solidarität untereinander auf“, ist Heider überzeugt. „Damals ist man noch von Haus zu Haus gegangen mit seinem Anliegen, heute geht man in die WhatsApp-Gruppe“, sagt der 77-Jährige.
„Wenn man über die Wertachbrücke fährt, merkt man: ´Hier kann ich durchatmen´“, schwärmt Elsa Gartenmeier über ihre Heimat. „Hier ist es mitten in Augsburg ruhiger als auf dem Land“, freut sich Chris König. Ingrid Schmidt kann diesen Enthusiasmus nicht teilen. Sie wohnt in der Diebelbachstraße – der einzigen Einfahrt nach Neubergheim, die zudem am Ort vorbei führt. „In den anderen Straßen ist das Paradies, aber die Hauptstraße ist die Hölle“, beklagt sie sich über den Verkehrslärm. Ein Problem, welches die ersten Einwohner Neubergheims nicht kannten: Damals gab es überhaupt keine Straßenverbindung zu den umliegenden Gemeinden. Die heutigen Bewohner dagegen wünschen sich wie innerorts auch in der Hauptstraße Tempo 30 sowie eine Sanierung des Belags.
Das Bauland in Neubergheim ist begrenzt
„Meine Großeltern hatten das erste Haus in der Spitzmahdstraße“, erzählt Robert Estermann. Die vierte Generation seiner Familie ist auf dem Weg: Seine Frau Susanne und er erwarten ein Kind. Während die Estermanns ein Haus gefunden haben, sucht ihr Bruder aktuell vergeblich nach Wohnraum an dem Ort, wo er aufgewachsen ist. Kein Einzelfall, denn der Wohnraum in Neubergheim ist ebenso begehrt wie begrenzt. „Es wäre schön, wenn jungen Familien, deren Eltern und Großeltern bereits hier groß geworden sind und die bleiben möchten, bessere Möglichkeiten eingeräumt würden, in Neubergheim Wohnraum zu finden“, sagt der Neubergheimer Georg Mayer.