Manchmal legen sie in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum derzeit Matratzen aus. 100 Betten haben sie hier stationär für Kinder und vor allem Jugendliche, die unter psychischen Problemen leiden und Hilfe benötigen, 40 weitere Betten in der Tagesklinik; das ist nicht wenig. Aber gerade reicht es nicht immer. Die Plätze "sind voll", sagt Michele Noterdaeme, Chefärztin der Klinik. Sie sagt aber auch: "Jeder, der Hilfe braucht, bekommt einen Platz." Gerade, so berichtet es die Expertin, benötigen besonders viele Kinder und Jugendliche in Augsburg Hilfe wegen psychischer Erkrankungen. Gerade die Jugendlichen seien betroffen. "Die Situation dauert nun schon fast zwei Jahre“, sagt Noterdaeme.
Die Situation, das ist: eine Pandemie, in der die Politik das öffentliche Leben massiv einschränkt, in der Hoffnung, damit die Infektionszahlen zu drücken. Und damit auch viel in der Alltagsroutine von Familien durcheinanderwirbelt. Homeoffice-Pflicht; Schul- und Kitakinder, die in Quarantäne müssen; Eltern, die möglicherweise in Kurzarbeit sind – "durch die Pandemie und die Einschränkungen sind viele Familien belastet", sagt die Medizinerin. Und damit seien es auch die Kinder. Der Winter sei ohnehin eine Jahreszeit, in der Kinder und Jugendliche vermehrt Hilfe suchten. "Nun kommt auch Corona dazu, mit einer vierten Welle, deren Heftigkeit keiner erwartet hat."
Corona-Krise in Augsburg: Einschränkungen führen zu psychischen Problemen
Man sehe zur Zeit "einen deutlichen Anstieg an Essstörungen" vor allem bei Jugendlichen, "aber auch viele massive depressive Verstimmungen", zum Teil hätten die Patienten ausgeprägte suizidale Gedanken. "Es ist einfach eine Erschöpfung, die bei den Jugendlichen da ist", sagt Noterdaeme.
Gänzlich neu ist die Entwicklung nicht. Bereits im Februar dieses Jahres veröffentlichten etwa Mediziner aus Hamburg eine bundesweite Analyse, wonach fast jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten habe. Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind psychisch belastet, berichtete damals die ARD. Besonders anfällig für Probleme seien Menschen, die aus sogenannten sozial schwachen Haushalten kommen. Gründe für eine Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens waren der Studie zufolge eine ungesündere Ernährung und deutlich weniger Bewegung. Bis zu 40 Prozent der Befragten seien nicht mehr sportlich aktiv, weil Angebote der Sportvereine und Freizeitaktivitäten fehlen.
Schließung der Schulen wirkt sich auf Kinder und Jugendliche aus
Die Augsburger Expertin Michele Noterdaeme sagte unserer Redaktion vor etwa einem Jahr, dass gerade auch die damalige Schließung der Schulen gravierende Auswirkungen gehabt habe; die Schule sei oft das, was Kindern noch Stabilität gebe. Auch in diesem Winter sieht die Medizinerin in der Schule einen wichtigen Faktor. Zwar sind die Einrichtungen derzeit nicht geschlossen, "aber es ist alles andere als eine Routinesituation". Viele Kinder und Jugendlichen müssten etwa in Quarantäne, es gebe einen "nicht regelhaften Schulbetrieb", dazu ein eingeschränktes Freizeitangebot, das mache ihnen zu schaffen. Viele Familien kämpften sich aber tapfer durch. Über die Tests und die Masken beschwerten sich die Kinder in der Regel nicht, sagt Michele Noterdaeme, es sei eher "die Gesamtatmosphäre".
Die Sozialfraktion im Stadtrat sieht jedenfalls Handlungsbedarf. Sie hat kürzlich in einem Antrag gefordert, dass die Stadt ein Konzept für Kinder und Jugendliche erarbeitet, das unter anderem "konkret niedrigschwellige Maßnahmen zur Prävention von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aufzeigen" sowie Wissen über psychische Krankheiten an Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe etablieren solle. Die Fraktion bezieht sich dabei auf Informationen von Anlaufstellen in Augsburg, die über einen deutlichen Anstieg von Hilfesuchenden berichteten, und eine Studie der Krankenversicherung KKH. Demnach sei im Corona-Jahr 2020 unter anderem die Zahl der psychischen Erkrankungen unter den Sechs- bis 18-Jährigen um 20 Prozent gestiegen.