Der Kreuzgang und die langen Flure rings um die Innenhöfe des ehemaligen Katharinenklosters sind verlassen. Statt in den Klassenzimmern sind über 1000 Schüler und 130 Lehrerkräfte des Holbein-Gymnasiums an diesem Werktag zu Hause. Unterricht gibt's trotzdem. Vier verschiedene Gruppen mit jeweils über 300 Teilnehmern, aufgeteilt in Anfänger und Fortgeschrittene sowie nach den Betriebssystemen ihrer Computer, erhalten an diesem Vormittag den letzten Schliff für das Videokonferenzsystem MS Teams.
Seit April arbeiteten der stellvertretende Schulleiter Stephan Hildensperger und seine Kollegen auf diesen Tag hin, fragten im Frühjahr die Zahl der IT-Geräte unter den 1118 Schülerinnen und Schülern ab, rüsteten in Eigeninitiative 100 Familien mit Laptops aus und begannen an Pfingsten mit den ersten Schulungen in MS Teams. Überstunden zählt hier keiner mehr, erklärt Angela Nüsseler, Mathelehrerin und Teil der MS-Teams-Taskforce. Eine kleine Umfrage beim Schulamt und verschiedenen Schulen ergibt: Ein derart generalstabsmäßig geplantes Soft- und Hardware-Projekt für einen möglichen Distanzunterricht ist sonst nicht bekannt.
Distanzunterricht vom Bett aus
Etwa vier Kilometer vom Schulhaus entfernt, am westlichen Stadtrand von Augsburg, haben Josefine und Susanne es sich in Josefines Zimmer gemütlich gemacht. Um sie herum liegen Schulhefte, Stifte und ein Taschenrechner verstreut. An dem Schreibtisch, der rechts neben dem Bett steht, ist nicht genug Platz für zwei, also sitzen sie auf dem Bett, Josefines Tablet gegen das Kopfkissen gelehnt. Um 12.30 Uhr sollen die beiden im virtuellen Klassenzimmer bei Angela Nüsseler sein.
Nach etwas Hin und Her sind sie drin, auf dem Bildschirm ihres Tablets erscheinen neun Kacheln, hinter denen jeweils andere Schüler verborgen sind. Die Schüler dürfen die Kameras ein- oder ausschalten. „Amelia, Pascal, ihr müsst die Mikrofone anmachen, man hört euch nicht.“ Josefine und Susanne kichern, auch auf den anderen Kacheln sind grinsende Gesichter zu sehen. „Yusuf? Yusuf!“ Schließlich zeigt er sich. Begrüßungslachen. Bei Johanna fehlen Mikro und Kamera. „Bitte morgen im Sekretariat abholen. Bis dahin schreibst du im Chat, ok?“
130 Holbein-Lehrer sind in 50 virtuellen Klassen
Von den 130 Lehrern, die jetzt in zeitgleich insgesamt 50 virtuellen Klassen Video-Unterricht machen, sitzt nur Nüsseler in ihrem Schulbüro an der Hallstraße. Konzentriert und gut gelaunt wechselt sie zwischen zwei Bildschirmen, Tablet und Handy hin und her. Der Anwesenheitscheck für 34 Schüler dauert eine Viertelstunde. Viel wird heute nicht gehen, das ist allen klar. Die Schüler sollen Arbeitsgruppen bilden und in eigenen Chat-Konferenzen eine Aufgabe zu Sinus und Cosinus lösen. „Die Ergebnisse bitte in 15 Minuten im Kursnotizbuch hochladen.“
Nach 20 Minuten sind zwei von neun Ergebnisse zu sehen, es dauert, bis die Schüler wieder in der Konferenz sind. Nüsseler speichert die Lösung in der „Bibliothek“, wo alle sie später nachschlagen können. Zum Schluss noch Hausaufgaben: Amplituden und Nullstellen bis Montag. Aus den Kacheln tönt 34-mal „Tschüss“. Zehn Prozent des vorgesehenen Stoffs haben sie heute geschafft. „Es fehlt die Unmittelbarkeit des Präsenzunterrichts. Aber wir haben jetzt für uns alle eine Brücke“, sagt Nüsseler. Inzwischen haben auch 27 Siebtklässler ihre Hausaufgaben im Video-System hochgeladen. Ein Schüler, von dem sie zwei Wochen nichts gehört hat, ist ebenfalls darunter. Die Lehrerin ist begeistert: „Alle haben abgegeben. Wow!“
Hilfe von Augsburger Firmen
Seit Mitte März – zwei Monate, bevor das Kultusministerium Lizenzen für MS Teams zu Verfügung stellte – hatten Eltern Geld für 25 Laptops gegeben. Die Augsburger Firma Baramundi spendete weitere 55 Computer und die Firma Xitaso stellte einen Netzwerkadministrator, der die Plattform zum Laufen brachte. Fünf Lehrer bilden jetzt ein internes Callcenter, das anrufen kann, wer Fragen zur Technik hat. Niemand soll verloren gehen, das war dem stellvertretenden Schulleiter Hildensperger wichtig. Trotz dieses Erfolges ist nicht alles gut. „Unterricht über Internet ist für uns wie für einen Fußballer, der nicht im Stadion, sondern auf Sand spielen soll.“ Die Beziehungen leiden. Wer mitkommt, wer nicht, lässt sich nicht mehr so schnell erfassen. Die Herausforderung für die nächste Zeit: „Wir müssen gleichzeitig Distanz auf- und wieder abbauen. Persönlich nah bleiben, auch wenn wir uns nur am Bildschirm sehen können.“
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