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Lesetipp: Aufwachsen in Armut: "Habe mir immer ein normales Leben gewünscht"

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Aufwachsen in Armut: "Habe mir immer ein normales Leben gewünscht"

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    Noel lebt in der Fuggerei. Er ist einer der jüngsten Bewohner. Seine Nachbarinnen und Nachbarn nennt er liebevoll „Omis und Opis“.
    Noel lebt in der Fuggerei. Er ist einer der jüngsten Bewohner. Seine Nachbarinnen und Nachbarn nennt er liebevoll „Omis und Opis“. Foto: Jonathan Lindenmaier

    Als Kind war Noel Guobadia häufig neidisch. "Schon im Kindergarten habe ich mir immer ein normales Leben gewünscht – wie die anderen Kinder", erzählt er. "Ich wollte zum Beispiel eigene Kleidung haben, keine Secondhand-Klamotten, die ich mir mit meiner Schwester teilen muss."

    Heute ist Noel 27 Jahre alt, trägt einen lila Pullover, Brille, Ohrring. Er lebt in der Fuggerei in Augsburg, der ältesten Sozialsiedlung der Welt. Rund 150 Menschen leben hier. Eine der Voraussetzungen: Bewohnerinnen und Bewohner müssen bedürftig sein.

    Er ist einer der jüngsten Bewohner. Seine Nachbarinnen und Nachbarn nennt er liebevoll "Omis und Opis". Lächelnd fragt er sie nach ihrer Gesundheit oder erzählt von seiner Arbeit. Noel sticht zwar unter den Bewohnern der Fuggerei hervor. Doch dass junge Menschen von Armut bedroht sind, ist keine Seltenheit in Deutschland. Im Gegenteil.

    Viele junge Erwachsene verdienen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn

    In der Gruppe der jungen Erwachsenen leben so viele Menschen unter der Armutsgefährdungsschwelle wie in keiner anderen Altersgruppe. Diese Schwelle ist unterschritten, wenn Alleinstehende weniger als 1074 Euro im Monat beziehen – sei es durch ein Stipendium, Gehalt oder Bafög. Fast 26 Prozent der 18- bis 25-Jährigen leben unterhalb dieser Grenze, 20,5 Prozent sind es bei den Jugendlichen. Menschen also, die jünger als 18 Jahre alt sind.

    "Das hat viel damit zu tun, dass die jungen Erwachsenen erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt suchen. Was ihnen keineswegs immer gelingt", sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Als Auszubildende oder Praktikantinnen verdienten sie wenig – häufig nicht mal den gesetzlichen Mindestlohn.

    „Das hat viel damit zu tun, dass die jungen Erwachsenen erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt suchen. Und das gelingt nicht immer“, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
    „Das hat viel damit zu tun, dass die jungen Erwachsenen erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt suchen. Und das gelingt nicht immer“, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Foto: Federico Gambarini, dpa

    "Hinzu kommt, dass gerade Studierende häufig in Großstädten leben und hohe Mieten bezahlen. Zum Leben bleibt da wenig." Bei den Jugendlichen liege die Ursache der Armut dagegen fast ausschließlich bei den Eltern. Vor allem die Kinder von Alleinerziehenden hätten es schwer. Der Grund: Ein Elternteil muss in der Regel eine ganze Familie ernähren. Über 40 Prozent der Alleinerziehenden lebten unter der Armutsgefährdungsschwelle.

    Noels Eltern haben sich getrennt, als er zwölf Jahre alt war. Der Vater zog nach Großbritannien. Noel wuchs mit seinem kleinen Bruder bei der Mutter auf. "Damals habe ich ungern Freunde mit nach Hause gebracht", erzählt Noel. "Nicht, weil ich mich geschämt hatte. Sondern aus Respekt vor meiner Mutter oder meinem kleinen Bruder." Bevor er mit seiner Familie 2012 in die Fuggerei zog, lebte die Familie in Lechhausen. Drei Zimmer, kleine Küche, kleines Bad, schlechte Busanbindung. Die Mutter schlief im Wohnzimmer. Mietpreis: 800 Euro warm. "Das hat auf Dauer einfach nicht funktioniert."

    Neben den Freunden waren die Betreuerinnen und Betreuer in der Fuggerei eine wichtige Stütze für Noel

    Der Umzug in die Fuggerei kam überraschend. "Ich dachte immer, das sei nur ein Museum. Mir war gar nicht klar, dass hier wirklich Menschen leben." Doch Noel gewöhnte sich schnell ein, freundete sich mit den Bewohnern an. Die Siedlung erinnere ihn an eine Märchenstadt, sagt er. Die ersten zwei Jahre in der Fuggerei lebte die Familie unter einem Dach, 2014 bekam Noel seine eigene Wohnung. "Es gab auch in dieser Zeit Monate, in denen das Geld knapp war – wenn man irgendeine Sonderausgabe hatte. Da haben meine Mutter und ich uns gegenseitig unterstützt."

    Wenn er heute Besucher durch seine Wohnung führt, bittet er sie, den Kopf einzuziehen. Die Decken in den Fuggerei-Häusern sind niedrig. Seine Wohnung ist vollgestellt mit Bücherregalen, Waschmaschine, Fernseher. An den Wänden hängen Fotos von Noel und seinen Freunden. "Als ich hier eingezogen bin, war das noch anders. Am Anfang hatte ich nur eine Stehlampe und eine Couch. Die Eltern meiner Freunde haben mir dann Möbel vorbeigebracht. Das war eine große Hilfe."

    Neben den Freunden waren die Betreuerinnen und Betreuer in der Fuggerei eine wichtige Stütze. "Hier wurde mir Raum gegeben, um mich zu entwickeln. Dadurch habe ich einen Ausbildungsplatz bekommen, auf den ich mich voll konzentrieren kann. Ohne dass ich Angst haben musste, wegen Eigenbedarf oder zu geringem Einkommen aus der Wohnung zu fliegen." Noel schloss die Ausbildung mit einer Eins ab, begann ein duales Studium, die Industrie- und Handelskammer gewährte ihm ein Stipendium.

    Die Fuggerei war für Noel mehr als nur finanzielle Förderung. Die Betreuerinnen und Betreuer waren eine wichtige Stütze in seiner Entwicklung.
    Die Fuggerei war für Noel mehr als nur finanzielle Förderung. Die Betreuerinnen und Betreuer waren eine wichtige Stütze in seiner Entwicklung. Foto: Jonathan Lindenmaier

    "Meine Klassenkameraden in der Mittelschule wollten alle nicht studieren, weil um sie herum niemand studiert hat. Auf der anderen Seite beobachte ich, dass bei den meisten Menschen in meinem Alter, die Jura oder Medizin studieren, auch die Eltern schon Jura oder Medizin studiert haben." Das Umfeld, in dem man aufwachse, beeinflusse die Entwicklung stark, glaubt Noel.

    Ähnlich sieht das der Armutsforscher Butterwegge. "Wir leben in einem konservativ geprägten Wohlfahrtsstaat, der vor allem auf die Familie setzt. Reichtum bleibt in der Familie, während sich Armut sozial vererbt. Wer in eine arme Familie hineingeboren wird, ist ein armes Kind, aus dem ein armer Jugendlicher und ein armer Erwachsener wird, der wieder arme Kinder bekommt." Wichtig sei, dass junge Menschen durch Bildung und Förderung Aufstiegschancen bekommen. Der Wohlstand im späteren Leben hänge vor allem von der Ausbildung ab. Doch Butterwegge warnt: "Auch Menschen, die studiert haben, können in prekären Beschäftigungsverhältnissen landen."

    Die ersten zwei Jahre in der Fuggerei lebte die Familie zusammen, 2014 bekam Noel seine eigene Wohnung.
    Die ersten zwei Jahre in der Fuggerei lebte die Familie zusammen, 2014 bekam Noel seine eigene Wohnung. Foto: Jonathan Lindenmaier

    Noel wünscht sich deshalb mehr Förderung. Nicht nur finanziell. "Junge Menschen müssen motiviert werden. Auch über die Schulzeit hinaus." Er selbst arbeitet und lernt viel – auch, um der Fuggerei etwas zurückzugeben. "Die Menschen haben mir eine Chance eingeräumt. Ich muss jetzt das Beste daraus machen. Um den Leuten zu zeigen, dass sie nicht umsonst auf mich vertraut haben."

    Seine Wünsche für die Zukunft: Einmal im Leben nach Japan reisen und in den kommenden Jahren eine Wohnung außerhalb der Fuggerei finden. "Und daran arbeiten, dass ich dieses normale Leben, dass ich mir immer gewünscht habe, vielleicht mal meinen eigenen Kindern ermöglichen kann."

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