Das langgezogene, dunkelgrüne Haus mit der Nummer 19 liegt ein wenig verwahrlost zwischen seinen renovierten Nachbarn im Lochgäßchen. Die Fenster sind schmutzig, die Fassade von Rissen durchzogen. Trotz seiner imposanten Größe zieht es kaum Aufmerksamkeit auf sich und die wenigen Passanten, die an diesem kalten Mittwochvormittag durch die kleine Gasse kommen, würdigen den Bau keines Blickes. Doch wenn Gregor Nagler am Lochgäßchen Nummer 19 hinaufblickt, sieht er keinen renovierungsbedürftigen Altbau. Er sieht ein Stück Stadtgeschichte, das zu Recht unter Denkmalschutz steht und das Augsburger Stadtbild zu dem macht, was es heute ist.
Gregor Nagler interessiert sich besonders für die Geschichte von Bauwerken
Gregor Nagler ist studierter Kunstpädagoge und Architekturhistoriker. Nebenbei arbeitet er als freier Illustrator für einen Verlag und führt ein kleines Geschäft in der Augsburger Innenstadt, in dem er selbst gezeichnete Postkarten mit Motiven aus der Fuggerstadt verkauft. Zusätzlich gibt er regelmäßig Stadtführungen. So wie heute. Er möchte sieben Bauwerke zeigen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt besonders wirken - auf den zweiten Blick aber viel über die Stadtgeschichte und die Bewohner Augsburgs erzählen.
Das große grüne Haus im Lochgäßchen hat sich Nagler nicht zufällig für seine Tour ausgesucht. „Mein erster Eindruck war bei diesem Haus immer, dass es ein Zinshaus, also ein Mietshaus, gewesen sein müsste.“ Doch das täuscht. Baukundliche Untersuchungen ergaben, dass das Erdgeschoss und der erste Stock bei der Erbauung im 16. Jahrhundert nur ein einziges Geschoss waren. Wände und Böden wurden erst nachträglich, nämlich Ende des 17. Jahrhunderts, eingezogen. Bis dahin waren in dem Haus zwei große Säle. Nach hinten hinaus war es offen, ein Säulenbogen führte in einen großen Garten – das Lochgäßchen Nummer 19 war also ein Gartenhaus. „Für reiche Augsburger war es nicht unüblich, zusätzlich zum Wohnhaus noch einen Garten mit einem Gartenhaus zu besitzen. Dort wurde beispielsweise die Kunstsammlung ausgestellt, gefochten oder Spiele gespielt“, erklärt Nagler.
Und noch eine zweite Besonderheit hat das unscheinbare Haus zu bieten: Es gehörte nämlich einem stadtbekannten Betrüger, dem Proviantamtsleiter Paul Hector Mair. Obwohl er keiner von den reichen Patriziern war, wollte er doch all das besitzen, was in dieser Gesellschaftsschicht üblich war. „Er hat bei den Geldtransaktionen, die er in seinem Amt durchführte, regelmäßig etwas abgezwackt und davon dieses Gartenhaus finanziert“, erzählt Nagler und schmunzelt. Jetzt wird das Haus saniert und in Wohnungen unterteilt.
Seit fast 20 Jahren setzt sich Nagler in Augsburg für den Denkmalschutz ein
Noch einmal blickt Nagler an dem Haus hinauf, dann geht er nach rechts und spaziert an der Häuserreihe entlang bis zur Vogelmauer, umrundet den Kappenzipfel und zeigt, wo früher laut Lageplan der weitläufige Garten gewesen sein muss. Heute ist das Gelände zugebaut, Hinterhöfe und Garagen ersetzen Blumenbeete und Rasen.
Gregor Nagler setzt sich seit fast 20 Jahren für den Denkmalschutz ein, leitete bis 2016 sogar den jährlichen Tag des offenen Denkmals. „Für mich war schon immer die Architektur das Interessanteste an der Kunst“, erzählt er auf dem Weg zum nächsten Ziel. „Es ist eine angewandte Kunst, jeder braucht sie, das ist unsere Lebenswelt.“
Im Juli 2020 eröffnete er den Instagram-Account architektur.raum.augsburg, wo er zunächst Bilder von Gebäuden teilte, die abgerissen werden sollten. „Aber damit das nicht zu deprimierend wird, habe ich dann kurz vor Weihnachten damit angefangen, auch andere Gebäude und deren Besitzergeschichte zu teilen“, erzählt Nagler. Besonders fasziniere ihn, dass architektonische Kunst auf den ersten Blick oft ganz unscheinbar sei. Dann nämlich, wenn es sich eben nicht um ein Schloss oder ein Kloster handelt. Und darum freue er sich darüber, dass immer mehr Gebäude unter Denkmalschutz gestellt würden. „Früher hat ja nicht jeder in einem Palast gewohnt. Wenn wir immer nur solche exponierten Bauten schützen würden, hätten wir irgendwann kein ganzes Bild mehr von der Architektur einer Zeit und davon, wie die Menschen früher lebten.“
Die nächste Station der Tour befindet sich an der viel befahrenen Jakoberstraße. Es ist die Hausnummer 49, ein rotes Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert mit geschwungenen, beigefarbenen Elementen, das ein wenig eingeengt wirkt zwischen seinen breiteren Nachbarn. Es ist eines der wenigen Gebäude, dass die schweren Luftangriffe der Alliierten im Jahr 1944 ohne allzu große Schäden überstanden hat. „Das Haus sticht aus seiner Umgebung heraus, aber gleichzeitig wird es dadurch auch entwertet“, sagt Nagler. „Man hat nicht die Muse, sich hinzustellen und es zu bewundern.“
In der Jakoberstraße wurden fast alle Gebäude bei einem Luftangriff zerstört
Tatsächlich sind die umliegenden Häuser eher schlicht, ohne Verzierungen. Denn sie entstanden erst nach dem Krieg, als die zerstörten Häuser durch Neubauten ersetzt wurden. Die Nummer 49 dagegen besitzt Schein-Rundfenster, wie die Ovale über den Fenstern im zweiten Stock genannt werden, Volutengiebel, wegen ihrer eingerollten Form auch Schneckengiebel genannt, und einen kleinen Festsaal im zweiten Stock. Zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock, am unteren Ende des flachen Erkers, prangt eine Malerei, die einen Adler zeigt. Das Tattoostudio im Erdgeschoss passt allerdings nicht so recht in das altehrwürdige Bild.
Noch während Gregor Nagler das Haus betrachtet, spricht ihn ein älterer Mann an. Ob er sich für das Haus interessiere, will er wissen, denn seine Nichte sei die Besitzerin. Der Mann heißt Manfred Frey und passt während der Abwesenheit seiner Nichte auf das Haus auf, wie er erzählt. Als „Mädchen für alles“. „Sie lebt in den USA, das Haus hier ist vermietet.“ Darum sei es leider nicht möglich, den Festsaal im zweiten Stock zu bewundern. Stattdessen bietet Frey eine Besichtigung des Dachbodens an.
Über das Treppenhaus, das vor einem Jahr erneuert worden ist, durch eine niedrige Tür – „Kopf einziehen“, warnt Frey – geht es bis unters Dachgebälk des Hauses. Hier ist fast alles noch so wie bei der Erbauung im 17. Jahrhundert. Das Gebälk ist abgewetzt und ganz glatt. Die Aussicht reicht weit über die Dächer der Stadt, nur in der Mitte des Raumes kann man aufrecht stehen.
An einem Fenster, allerdings im zweiten Stock, stand auch die ehemalige Hausbesitzerin, als 1944 im Zweiten Weltkrieg eine Bombe auf den Marktplatz, die heutige Jakoberstraße, fiel. „Sie hat mir erzählt, dass die Bombe genau auf die Straßenbahnschiene gefallen ist - damals war es nur eine, nicht zwei. Und da hat es das Dach gelupft und die Fensterscheiben sind rausgeflogen. Aber sonst war an ihrem Haus nichts kaputt“, berichtet Frey, der nach eigener Aussage mit der Frau gesprochen hat.
Weiter geht die Tour, diesmal in Richtung Innenstadt. „Als nächstes möchte ich ein Bauwerk zeigen, dass man vielleicht auf den ersten Blick nicht schön findet“, sagt Nagler und lacht. „Die ganze Ecke ist ja gestalterisch eher prekär.“ Gemeint ist das Bauwerk Lauterlech 19, ein großer Betonbau mit 25 Wohnungen, der in den Fünfziger Jahren von Georg Barnert für die Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft „Proviantbach“ errichtet wurde.
Was heute eher negativ auffällt und wenig Positives zum Stadtbild beizutragen scheint, half im kriegszerstörten Augsburg gegen die schlimme Wohnungsnot. „Ende der Vierziger Jahre gab es eine Umfrage, wie die Augsburger wohnen wollen. Heute sind wir entsetzt, wenn wir hören, wie bescheiden die Leute waren.“ Da habe man sich als mehrköpfige Familie eine Wohnung mit 40 bis 50 Quadratmetern gewünscht – was in Form von Zweizimmerwohungen umgesetzt wurde. So wie im Lauterlech 19. „Die Wohnungen hier galten als superschick, unter anderem weil sie Küchen mit Müllschacht hatten, wie man es aus dem Fernsehen von Amerika kannte.“
In der Nachkriegszeit ging es in Augsburg besonders um viel und schnellen Wohnraum
Der Baustil, den Nagler als Rasterbau bezeichnet, hat seinen Ursprung in den 1920er-Jahren. Nach dem ersten Weltkrieg, als die Soldaten zurückkehrten und die Geburtenrate rasant anstieg, gestaltete sich die Wohnsituation schwierig. „Augsburg war eine ganz furchtbare Stadt zum Wohnen, die Häuser waren viel zu dicht belegt“, erzählt Nagler. Da sei dann erstmals die Idee zum seriellen Bauen aufgekommen, die sich auch in den Fünfzigern wieder durchsetzte. „Hier wurde der Wohnraum nicht hinter einer Prunkfassade versteckt, man wollte viel mehr zeigen, dass innen alles nach Rastern ging. Man könnte diesen Bau beliebig vergrößern, ohne dass sich das Konzept ändert.“
Ganz anders sieht es nur wenige Gehminuten entfernt im Vierten Quergäßchen aus. Enge Gassen mit Kopfsteinpflaster führen an bunten Häuschen entlang, und muten fast italienisch an. Eine Tatsache, die Nagler nicht wundert: „In Italien war man nicht von Luftangriffen betroffen und die Italiener würden einen Teufel tun und an ihren Innenstädten viel verändern.“ Auch hier im Vierten Quergäßchen ist alles noch so wie früher, nur eben saniert. Das beste Beispiel dafür ist das Vierte Quergäßchen Nummer vier, das von mehreren jungen Leuten zweieinhalb Jahre lang in viel Eigenarbeit saniert wurde. Nagler kennt die Wohngemeinschaft, da eine ehemalige Studentin, Corinna Pusch, dazugehört.
Pusch ist es auch, die plötzlich ein Fenster im Erdgeschoss öffnet und zusammen mit Sandra Eck herausschaut, um sich kurz mit Nagler zu unterhalten. Seit Dezember 2020 wohnen die beiden mit drei weiteren Erwachsenen und zwei Kindern in ihrem Haus. Der Ausbau sei im Prinzip fertig, erzählt Pusch.
Im Vierten Quergässchen in Augsburg wohnten nur die Allerärmsten
Nagler kennt das Haus daher noch im Rohzustand und weiß, wie viel Arbeit in der Sanierung steckt. Doch er weiß auch, dass dieses Wohnviertel nicht immer so begehrt war wie heute. „Im Mittelalter war es das Viertel der Allerärmsten, und das hat sich bis in die 50er-Jahre fortgesetzt. Die Menschen wollten viel lieber in den Neubauten wohnen, erst später begann man, die Gegend hier zu schätzen.“
Und weiter geht es, ein Stück am Unteren Graben entlang und über die Zirbelnuss-Kanal-Brücke zum Mauerberg. Das große, etwas verwahrlost wirkende Haus an der Mauer der Domstadt mit der Nummer 31 ist Naglers Ziel. Denn es war von 1507 bis 1531 das Wohnhaus des wohl berühmtesten Augsburger Renaissance-Malers Hans Burgkmair, woran heute nur noch eine Inschrift über der Tür erinnert. „Wenn man sich ansieht, wie das Dürer-Haus in Nürnberg aussieht, und dann sieht, wie Augsburg das Haus eines seiner berühmtesten Malers behandelt – das ist bezeichnend.“
Auch hier gab es kaum Kriegszerstörungen, die Straße ist auch heute noch gesäumt von Altbauten. „Eigentlich ist es ganz hübsch hier – allerdings ist die Ecke über Jahrzehnte vernachlässigt worden.“ Erst seit Kurzem werde auch hier nach und nach saniert. Auch im ehemaligen Wohnhaus des Malers sind zumindest die Fenster modern – „Immer ein gutes Zeichen, dass das Haus nicht kurz vor dem Abriss steht“, erklärt Nagler – doch auch hier sei eine Sanierung dringend notwendig.
Was Nagler an dem Haus besonders fasziniert, ist der ehemalige, berühmte Besitzer, der dank zahlreicher Selbstporträts greifbarer sei als viele andere. Und auch durch seine anderen Werke könne man sich ein Bild von dem Maler als Menschen machen. Bei den meisten anderen ehemaligen Hausbesitzern wisse man nicht einmal, wie diese ausgesehen hätten, was diese auch weniger real mache. Zudem sei das große Gebäude ein typisches Handwerkerhaus – allerdings natürlich von einem Luxushandwerker.
Trotzdem ist es ein anderes Gebäude, das Nagler als seinen heimlichen Liebling bezeichnet. Grund dafür ist seine Leidenschaft für den Barockstil. Es handelt sich um die gelb und rot gestrichene Hausnummer 15 in der Karolinenstraße, ein Haus, das wie in der Jakoberstraße zwischen seinen schlichten Nachbarn weniger auffällt, als es ihm zusteht. „Das Haus hier ist noch einmal etwas Besonderes, selbst für den Barockstil, weil es im späten Barock gebaut wurde. Der hier sichtbare Stil nennt sich Zopfstil“, erklärt Nagler, während ein scharfer, kalter Wind an seinem Mantel rüttelt. Grund für diese Bezeichnung sind die Girlanden über den Fenstern, die geflochtenen Zöpfen ähneln.
Typisch für die Augsburger Architektur: der Flacherker
Das Haus sei genau in der Übergangszeit zwischen Barock und Klassizismus im 16. Jahrhundert erbaut worden. So sind einige Elemente aus der Barockzeit zu finden, wie etwa die Zöpfe, doch es sei nicht so überladen wie andere Häuser im Barockstil. Dagegen fänden sich auch Elemente aus dem Klassizismus, wie die umlaufenden Ornamentbänder, der die Inspiration aus der griechischen Architektur zieht. „Eigentlich waren die Leute noch begeistert vom Rokoko, aber haben eben auch ganz viele klassizistische Elemente an dem Haus verbaut. Und so wirkt es schon wieder voll.“
Und ein weiteres Merkmal fällt Kennern wie Gregor Nagler sofort ins Auge: der Erker. Wie bei vielen alten Häusern in Augsburg handelt es sich auch hier um den sogenannten Flacherker, der über mehrere Etagen reicht und nicht weiter als zweieinhalb Stadtwerkschuh, die frühere Maßeinheit, auf die Straße hinausragen durfte. „Das war durch eine Bauordnung geregelt, das ist natürlich recht flach für einen Erker.“ Das verwendete Maß habe sich von Stadt zu Stadt unterschieden, sodass es große architektonische Unterschiede gegeben habe. „Sie müssen sich das so vorstellen: Wenn beispielsweise der Nürnberger Schuh größer gewesen wäre als der Augsburger, dann war in Nürnberg eben auch architektonisch alles größer als in Augsburg.“ Am Augsburger Rathaus hängen bis heute die damals gültigen Maßeinheiten neben dem Eingang. Erst ab dem 19. Jahrhundert setzte Bayern ein einheitliches Bausystem durch.
Ebenfalls typisch für Augsburg ist das Baumaterial. Es gebe keinen Naturstein, ebenso sei das Bauen mit Holz damals verboten worden, weswegen es auch keine Fachwerkhäuser gebe. „Was dann noch geblieben ist, ist die Putzfassade. Und darum sehen viele Fassaden relativ flach aus, was aber durch die vielen Ornamente und Fassadenmalereien ausgeglichen wird.“
Der letzte Stopp des Tages liegt in der Beethovenstraße und wurde von den Architekten Walter Krauss und Hermann Dürr errichtet – wie die meisten Häuser in der Umgebung. „Die Stadt ist Anfang des 20. Jahrhunderts stark gewachsen und konnte innerhalb von 40 Jahren ihre Einwohnerzahl verdoppeln. Ab 1910 galt sie mit 100.000 Einwohnern als Großstadt.“ Diese Zeit sei für Architekten besonders gut gewesen, ganze Areale hätten sie vor den Toren der alten Stadt aufgekauft und in ihrem Stil bebaut. „Jedes Architekturbüro hatte ganz eigene Elemente in seinem Katalog, sodass man anhand der Gebäude den Architekten erkennen kann.“
Die Architekten Krauss und Dürr haben die Beethovenstraße bebaut
So hätten Krauss und Dürr typische Elemente der Architekturmetropolen wie Wien oder Darmstadt mit anderen vermischt. An der Hausnummer 6 in der Beethovenstraße, einem auffälligen, gelben Gebäude, sind unter den Fenstern Kranzelemente, die an den Barockstil erinnern, während die mehreckige Tür und die runden Scheiben am Erdgeschoss dem Jugendstil zuzuordnen sind.
Für Nagler sind die Häuser von Krauss und Dürr mit die schönsten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, jedes ein bisschen anders und doch mit wiederkehrenden Erkennungsmerkmalen und in leuchtenden Farben. „Natürlich war hier dann eine der besten Wohngegenden und viele Augsburger haben die Innenstadt verlassen, um hierherzukommen. Die Gegend war einfach schicker.“ Auch heute bietet das Wohnviertel weitläufige Wohnungen bei direkter Anbindung zur Innenstadt - und ist eine weitere Ergänzung im architektonisch so vielseitigen Augsburg.
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