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Zwölf Stämme: Kinderpsychiaterin: Schläge schaden einem Kind massiv

Zwölf Stämme

Kinderpsychiaterin: Schläge schaden einem Kind massiv

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    Kinderpsychiaterin: Schläge schaden einem Kind massiv
    Kinderpsychiaterin: Schläge schaden einem Kind massiv

    Die Fernsehbilder, die ein RTL-Reporter bei den Zwölf Stämmen aufgenommen hat, sind kaum zu ertragen. Mit versteckter Kamera dokumentierte er, wie systematisch Erwachsene die Kinder in der Religionsgemeinschaft züchtigen. Inzwischen wurden die Kinder aus den Familien herausgeholt. Die betroffenen Eltern geben sich uneinsichtig. Nach eigenen Angaben sehen sie Schläge nicht als Misshandlung, sondern als vertretbare Erziehungsmaßnahme.

    Die Oberärztin in der Kinder- und Jugendpsychatrie am Josefinum in Augsburg Alfia Dietmayer sieht das anders. Wir haben mit der Kinderpsychiaterin über die psychischen Folgen für die betroffenen Kinder gesprochen.

    Den Eltern der Glaubensgemeinschaft wird vorgeworfen, ihre Kinder regelmäßig mit Weidenruten zu züchtigen. Was passiert mit einem Kind, wenn es geschlagen wird?

    Alfia Dietmayer: Die Ereignisse bei den Zwölf Stämmen habe ich mitbekommen, allerdings habe ich mit keinem Kind persönlich gesprochen. Deswegen kann ich nur allgemein erläutern, was innerfamiliäre Gewalt für Folgen hat. Zunächst einmal schüchtern Schläge das Kind stark ein. Es wird in eine enorme Stresssituation gebracht. Das kann sehr massive Auswirkungen haben. Jedoch ist das von Kind zu Kind unterschiedlich. Psychische Beeinträchtigungen, welcher Art auch immer, wird aber jedes Kind davontragen. Das ist sicher.

    Wovon hängt es ab, wie stark ein Kind davon belastet wird? 

    Dietmayer: Es kommt darauf an, wie viel emotionale Ressourcen ein Kind besitzt, also wie psychisch stabil es ist. Bei vielen Kinder löst das psychische Traumata aus, die wiederum später zu den unterschiedlichsten psychiatrischen Erkrankungen führen können. Und das kann auch schon passieren, wenn das Kind nur ein Mal geprügelt wird.

    Was sind das für Erkrankungen und Beeinträchtigungen?

    Dietmayer: Bei kleineren Kindern äußert sich die erlebte Gewalt häufig dadurch, dass sie viel weinen, schlecht schlafen und sehr schreckhaft sind. Ältere Kinder und Jugendliche dagegen werden eher aggressiv und können sich nur noch schlecht konzentrieren. Häufig führt das dann zu Drogenmissbrauch und Essstörungen. Sie suchen damit einen Weg, ihre Gefühle zu betäuben. Die Auswirkungen können aber auch erst Jahre später im Erwachsenenalter auftreten. Dann merken diese Menschen, dass sie nicht so funktionieren, wie andere. Manche bekommen beispielsweise Angststörungen und Panikattacken, andere sind einfach nicht fähig, eine normale Partnerschaft zu führen. Durch die Gewalt wird die gesunde Entwicklung des Menschen gestört.

    Was kann noch passieren?

    Dietmayer: Natürlich können sich die Muster auch wiederholen. Menschen, die geschlagen wurden, schlagen unter Umständen auch ihre eigenen  Kinder wieder. Das hängt mit der Prägung zusammen. Wenn man es nie anders erlebt hat, kann man sich später manchmal auch nicht anders verhalten. Deshalb ist es so wichtig, dass solche Kinder professionelle Hilfe bekommen. Sie brauchen ein Vorbildmodell.

    Bei den Zwölf Stämmen werden Kinder offenbar auch von den Familien isoliert, wenn sie nicht gehorchen.

    Dietmayer: Das ist emotionale Vernachlässigung, die Kinder verwahrlosen. Auch das kann zu psychischen Traumata führen.

    Die Sektenmitfglieder begründen die Schläge und die Isolierung als gängige Erziehungsmethode.

    Dietmayer: Schläge sind eine sehr einfache Methode, um Kinder gefügig zu machen. Es ist aber auf gar keinen Fall eine langfristig wirksame Maßnahme. Denn damit schadet man dem Kind.

    Vor 50 Jahren waren Schläge noch ganz normal. Was hat sich verändert?

    Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme"

    Die "Zwölf Stämme" (The Twelve Tribes) sind eine urchristliche Glaubensgemeinschaft, die in den 70er Jahren in den USA gegründet wurde.

    Die Anhänger der "Zwölf Stämme" leben streng nach der Bibel, die sie wortwörtlich auslegen. Sie sind fest davon überzeugt, dass ihr Glaube der einzig Richtige ist.

    "Grundlage unseres Lebens ist der Gehorsam zu den Worten Jahschuas , des Messias, so wie sie in der Bibel, dem Wort Gottes, niedergeschrieben sind", schreiben die "Zwölf Stämme" über sich selbst.

    Die Zwölf Stämme haben weltweit etwa 2000 Mitglieder, davon etwa 100 in Deutschland.

    Mitglieder der Zwölf Stämme leben und arbeiten in streng hierarchisch aufgebauten Kommunen zusammen.

    Eine dieser Kommunen wohnt seit 2000 im Gut Klosterzimmern im Kreis Donau-Ries.

    Die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ weigern sich, ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken. Die Gemeinschaft begründet dies mit ihrer Religion, macht „Gewissensgründe“ geltend. Ein Grund ist der Sexualkundeunterricht.

    "Unsere Religion hat sich nicht in den Staat einzumischen und umgekehrt sollte sich der Staat nicht in unsere Religion einmischen", ist eine weitere Aussage der "Zwölf Stämme" .

    Ab 2006 unterrichteten die Zwölf Stämme in Klosterzimmern ihre Kinder in einer Privatschule.

    Wegen des Verdachts, sie würden ihre Kinder züchtigen, haben die "Zwölf Stämme" immer wieder Ärger mit Polizei und Justiz. Die Mitglieder bestreiten die Vorwürfe.

    Als 2013 ein Video auftaucht, auf dem festgehalten ist, wie Mitglieder ihre Kinder mit Ruten schlagen, holen Polizisten alle 40 Kinder der Sekte ab und bringen sie in Pflegefamilien unter.

    Im September 2015 kündigen die "Zwölf Stämme" an Deutschland zu verlassen und nach Tschechien zu ziehen. Die Sekte hofft, dort ihren Glauben frei ausleben zu können.

    Dietmayer: Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der Gewalt nicht toleriert wird. Und das ist auch das einzig Richtige. Es gibt inzwischen unzählige Studien, die belegen, dass Gewalt der Entwicklung des Kindes schadet. Wollen wir aktive und gesunde Menschen in einer stabilen und fortschrittlichen Gesellschaft, müssen wir die Gewalt in Familien so weit es geht minimieren.

    Die Kinder wurden aus ihren Familien gerissen. Schadet das den Kindern nicht ebenfalls?

    Dietmayer: Das wichtigste ist erst einmal, die Gewalt zu beenden. Danach muss man die Kinder professionell im Auge behalten, ihnen Schutz, Sicherheit und Struktur bieten. Außerdem benötigen sie liebevolle, ehrliche und zuverlässige Zuwendung. Außerdem gilt es,  individuell auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Jedes Kind trauert anders. Und dann muss auch wieder eine langsame und kontrollierte Annäherung an die Eltern stattfinden.

    Warum dauert es oft so lange, bis die Gewalt in Familien bemerkt wird? Warum vertrauen sich die Kinder niemandem an?

    Dietmayer: Viele Kinder schweigen aus Scham. Sie reden sich häufig ein, den Prügel verdient zu haben. Das ist ein Erklärungsmuster, weil sie sich ja ihren Eltern gegenüber loyal verhalten wollen.

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