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Augsburg: Zweirad Gehl: Wie eine Familie seit 100 Jahren vom Fahrrad lebt

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Zweirad Gehl: Wie eine Familie seit 100 Jahren vom Fahrrad lebt

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    Max Gehl junior und senior im Verkaufsraum ihres Ladens. Dort stehen 500 Räder zur Wahl.
    Max Gehl junior und senior im Verkaufsraum ihres Ladens. Dort stehen 500 Räder zur Wahl. Foto: Silvio Wyszengrad

    Es war ein Herrenrad der Marke Diamant, mit Laterne und Glocke, das Max Gehl 1919 für 728,50 Mark in seinem Geschäft in der Ulmer Straße an seinen ersten Kunden verkaufte. Genauestens notiert hat der Geschäftsmann diesen Vorgang in einem Geschäftsbuch. Dazu vermerkt, dass der Käufer den Betrag in vier Raten begleichen wird. Am Ende der Seite prangt der Firmenstempel, damit alles seine Ordnung hat (Lesen Sie auch: Als das Fahrrad in Augsburg noch teurer Luxus war).

    100 Jahre, viele hundert Kunden und einen Standortwechsel später ist das Radcenter Gehl mit 800 Quadratmetern Verkaufsfläche und rund 2000 Rädern im Bestand der älteste und größte inhabergeführte Fahrradhändler in Augsburg. Geleitet wird der Betrieb vom Urenkel. Auch er heißt Max Gehl – wie alle erstgeborenen männlichen Gehls – und ist in gewisser Weise „schuld“ daran, dass es den Familienbetrieb überhaupt noch gibt. Denn sein Vater, Enkel des Firmengründers, hatte seinerzeit keine großen Ambitionen, das Geschäft fortzuführen. Er machte lieber in London eine Ausbildung zum Automechaniker. Doch als seine Frau ihm Nachwuchs ankündigte, entschied er sich um. „Da erschien es mir dann doch einfacher, mein Wissen im familieneigenen Betrieb anzuwenden, als mich nach einer anderen Arbeitsstelle umzusehen“, erzählt Max Gehl senior lachend. Bereut hat er den Schritt nicht, auch wenn das Geschäft immer wieder auch Herausforderungen bereithält.

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    Großes Radgeschäft in Augsburg

    Die derzeit größte sei es, die vielen Kundenanfragen zu bedienen. Denn Radfahren erlebt seit einigen Jahren einen mächtigen Boom „Der große Vorteil des Fahrrads ist es, dass es ein positives Image hat. Gerade jetzt, wo es um Umweltschutz geht. Das spielt unserer Branche natürlich enorm in die Karten“, gibt Max Gehl junior zu. Dazu hat in den vergangenen fünf Jahren auch die Entwicklung beim E-Bike ihren Beitrag geleistet. Gerade ältere Menschen nutzen das Rad der motorisierten Unterstützung wegen länger als früher. Dazu begeistert die Technik auch zunehmend die Jungen. „E-Bike-Modelle gibt es bei verschiedenen Radtypen und der Motor bringt Fahrspaß. Das kommt an“, sagt Gehl.

    Die anhaltend gute Nachfrage hat dazu geführt, dass der Familienbetrieb sein Personal immer wieder aufgestockt hat. Als 2003 den Firmensitz aus der Ulmer Straße 24 in die Lise-Meitner-Straße verlegt wurde, gab es rund zehn Angestellte, heute sind es zwanzig. Und wären ausreichend Fachkräfte vorhanden, würde Gehl noch neue Beschäftigte dazunehmen. Denn war der Fahrradhandel lange ein reines Saisongeschäft, werden die Umsätze nun Stück für Stück gleichmäßiger aufs Jahr verteilt. „Die Winter sind nicht mehr so hart wie früher und die Menschen fahren zunehmend auch bei kalten Temperaturen. Das heißt, immer mehr nutzen ihr Fahrrad ganzjährig“, so Gehl senior. Somit würde auch das Personal von Januar bis Dezember gebraucht.

    Es begann mit 25 Fahrrädern im kleinen Verkaufsraum

    Eine Entwicklung, die sich der Urgroßvater und Firmengründer vermutlich nur erträumt hat. Er startete mit 25 bis 50 Rädern in einem kleinen Verkaufsraum. Zwischen März und Juli herrschte dort Hochbetrieb, den Rest vom Jahr versuchte man mit anderen Angeboten, wie dem Verkauf von Kinderwägen oder später Vesparollern zu überwintern. Dazu war ein Fahrrad einfach ein Fortbewegungsmittel ohne großen Schnickschnack.

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    Auch heute ist ein Fahrrad ein Fahrrad und besteht im Wesentlichen aus den gleichen Komponenten wie vor 100 oder 50 Jahren, aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Statt 50 Rädern stehen nun 500 in den Ausstellungsräumen. Es gibt viel mehr Modelle und Ausstattungsvarianten als zu Gründerzeiten. Die Technik wird immer ausgefeilter und für den Laien wird es so zunehmend schwerer, sich beim Kauf zu orientieren. „Deshalb suchen viele im Internet Rat, informieren sich und kommen dann aber doch mit ganz konkreten Vorstellungen zu uns“, erzählt Gehl junior. Der Kunde wird anspruchsvoller, auch weil er bereit ist, mehr Geld für ein Fahrrad auszugeben.

    Warum nicht immer jedes Rad da ist

    Manchmal allerdings klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Denn die modernen und schnellen Entwicklungen in der Branche sind Fluch und Segen zugleich. Während der Kunde das auf ihn maßgeschneiderte Fahrrad wünscht und die Hersteller auch eine nahezu unendlich große Palette an Möglichkeiten bieten, kann der stationäre Händler vor Ort nicht jedes Modell vorhalten. Er muss frühzeitig vor der Saison bestimmen, was er dem Kunden im nächsten Sommer anbieten will und was nicht. „In zwei Wochen ist wieder unsere entscheidende Messe, wo wir zu 70 bis 80 Prozent festlegen, was wir einkaufen und 2020 im Sortiment haben werden“, so Gehl. Hinter dieser Vorgehensweise steckt das Konstrukt der ZEG, der Zentralen Einkaufsgenossenschaft, der in ganz Europa 960 Händler angehören.

    Weil die ZEG mittlerweile selbst Hersteller von Marken wie Pegasus oder Bulls ist und ihr unter anderem Marken wie Flyer, Kettler oder Herkules gehören, ist für einen Händler, der eine breite Auswahl bekannter Marken bieten will, eine Mitgliedschaft von großem Vorteil. Denn manche Marken werden ausschließlich an ZEG-Händler geliefert. Dazu dient die ZEG aber auch als Einkaufsgenossenschaft, bei der Händler im Verbund bestellen, so für größere Volumina sorgen und Preisvorteile erhalten. „Ja, die ZEG hat eine gewisse Macht, aber nur durch sie ist es überhaupt möglich, das Preisgefüge im Fahrradbereich einigermaßen stabil zu halten. Und das kommt nicht nur den Händlern, sondern vor allem auch dem Kunden zugute“, erklärt Gehl – auch wenn es nicht immer leicht zu vermitteln ist, warum man ein Rad in der Wunschfarbe – obwohl sie vom Händler angeboten wird – nicht liefern kann. Eben weil man sie nicht vorab bestellt hat.

    Skeptischer Blick auf E-Roller

    In solchen Fällen setzen Gehl und seine Mitarbeiter auf die Flexibilität der Kunden. „Wir arbeiten auch mit kleineren Herstellern zusammen, die individuelle Anfertigungen unter der Saison ermöglichen. Dann auch in der Wunschfarbe oder Wunschausstattung. Aber das dauert dann eben auch und ist etwas teurer.“ Ob der Fahrradboom auf diesem Niveau weiter anhält, kann keiner voraussagen. Doch Zukunftssorgen machen sich die Gehls nicht. Das Fahrrad bleibt aus ihrer Sicht ein beliebtes Produkt, dazu werde es weitere neue Entwicklungen geben, die zum Kauf animieren. Nur von einer Idee sind Junior und Senior bislang nicht überzeugt: „Beim E-Roller sind wir vorsichtig, dieses Konzept ist noch nicht ganz ausgereift“, sagt Gehl Junior. Weil sich die Nachfrage stark in Grenzen hält, will er abwarten. Damit er den Anschluss aber nicht verpasst, baut Gehl dennoch vor: „Ein E-Roller-Modell haben wir im Sortiment. Dann können wir im Fall der Fälle schneller reagieren. Mein Ur-Opa hätte sich ein Fahrrad mit Motor sicher auch nicht als Kassenschlager vorstellen können.“

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