Ein kleiner Bub, fünf Jahre alt. Um ihn herum hunderte Menschen, gepresst in schmale Gänge, manche gerade einmal schulterhoch. Schlechte Luft und schummriges Licht aus Petroleumlampen. Angst. Angst, dass Familienmitglieder noch draußen sind, dort wo die Bomben fallen. Angst, dass das Haus in Trümmern liegt, wenn der Lärm der Bomben verstummt ist.
Es ist ein tiefschwarzes Jahr für Augsburg. 1944, als allein in einer Nacht Ende Februar zehntausende Bomben auf die Stadt fallen. Als 800 Menschen sterben, Tausende ihr Obdach verlieren oder fliehen. Hans Breu trägt nur Erinnerungsfetzen an die Zeit rund um die Bombennacht mit sich herum. Aber verlieren wird er sie nie.
76 Jahre später, es ist ein kalter, grauer Wintertag, kehrt Breu wieder einmal zurück an den Ort seiner Kindheitserinnerung. Er wartet an einer graffitibesprühten Wand vor einer Tür aus Stahl, gleich am Rande des Wittelsbacher Parks. Nur 200 Meter entfernt der Hotelturm, umhüllt von dichtem Nebel.
Breu, ein großer Mann, höflich, fängt gleich an zu erzählen. Über den Bunker, durch den er gleich führen wird. Ein Netz aus kilometerlangen Gängen, das sich vom Wittelsbacher Park unter anderem bis zum Rosenaustadion erstreckt und das Schutz bot für die Bewohner aus Antons- und Thelottviertel und aus dem Stadtteil Pfersee.
Dann zieht sich Breu einen Helm an, nimmt die Taschenlampe und verschwindet in einem schwarzen Labyrinth aus Gängen. Nach wenigen Metern empfängt das Smartphone kein Signal mehr, ohne die Taschenlampen wäre es stockdunkel.
Dieser Ort, er könnte Menschen regelrecht verschlucken. Breu führt durch Tunnel, die überall ähnlich aussehen. Rund zwei Meter breit, ausgespritzt mit Beton und runden Decken. Dazu Nummern an den Wänden, 67 oder 246, die einem Laien bei der Suche nach dem Ausgang keine Hilfe sind. Im Ernstfall hätte die Bauweise des Stollens Leben retten können, erzählt Breu: Bei einer Explosion wäre die Druckwelle durch die vielen Winkel und Kurven abgeschwächt worden.
Breu trottet wie ferngesteuert durch die Gänge. Hunderte Führungen hat er hinter sich, allein 2019 führte er 30 Gruppen durch das Tunnelsystem. "Ich bin zweimal mit einem Plan hier gewesen. Seitdem brauch ich keinen mehr", sagt Breu – und hält dann an.
Er steht in einem kleinen Raum mit hoher Decke. Durch einen Schacht tropft Wasser. Hier, elf Meter unter der Erde, sieht der Bunker noch aus wie damals in den 1940er Jahren. Mit Ziegeln an den Wänden. Erst zwanzig Jahre später, inmitten des Kalten Krieges, sollte ein Großteil des Bunkers saniert und mit Beton stabilisiert werden.
Es ist ein guter Platz, um über die Geschichte des Bauwerks zu sprechen. Die Taschenlampe wirft einen Lichtkegel an die Backsteinwand – und Breu erzählt. Wie der Bunker in den 1940er Jahren entstand. Dass sich Gefangene mühsam mit Pickelnund Schaufeln durch die Erde gruben. Und wie karg der Stollen in Weltkriegszeiten ausgestattet war. Denn: Die vielen Gänge dienten nicht dazu, in den eigentlichen Bunker zu gelangen. Sie waren der Bunker. Die Schutzsuchenden saßen links und rechts der Gänge auf Holzbänken. Es gab kein installiertes Licht – und, wenn überhaupt, wohl nur eine Toilette für bis zu 1200 Menschen.
Heute sind weite Teile des Stollensystems zugeschüttet. Aus Sicherheitsgründen. Doch da, wo noch ein Weg entlangführt, warten immer wieder Überraschungen. Zum Beispiel in einem engen Stollen aus Ziegelsteinen. Hier wachsen Wurzeln aus der Decke, die von Bäumen an der Oberfläche stammen. Einige Meter weiter wachsen Tropfsteine aus der Decke, die von Wasser aus einer undichten Stelle gespeist werden.
Breu geht weiter, teils gebückt, dort wo die Decken so niedrig sind, dass nur ein Kind aufrecht hindurchgehen könnte. Immer wieder stößt er mit dem Kopf an. Später, wieder draußen angekommen, wird er seinen Helm abnehmen, ein mit Schrammen übersätes Stück Plastik. Spuren seiner unzähligen Besuche im Bunker.
Ob er, der sich so gut im Bunker zurechtfindet, doch auch mal Panik verspürte? Einmal, ja. Breu, der sich seit Jahrzehnten bei Feuerwehr und Technischem Hilfswerk engagiert, nahm an einer Rauchschutzübung teil. Dann bog er im dichten Nebel falsch ab – einen Kameraden im Schlepptau, dessen Sauerstofflasche nur noch wenige Reserven enthielt. Gerade noch rechtzeitig schafften sie es raus an die frische Luft. Das ausgeströmte Rauchpulver, es ist zwar nicht tödlich, aber es reizt die Atemwege, erzählt Breu. Seit dem Vorfall habe er sich nie wieder verlaufen.
Auch jetzt findet er sofort sein Ziel: einen breiten Schacht mit Wendeltreppe, die an die Oberfläche führt. Er diente als Notausgang. Wer ihn benutzte, stand oben inmitten des Wittelsbacher Parks. Unten an der Treppe hätten sich vor einiger Zeit Obdachlose versteckt, erzählt Breu. Sie waren in das Stollensystem eingedrungen und hatten sich dort mit Schnaps und Decken eingerichtet. Mehrere Eingänge zum Bunker wurden daraufhin verbarrikadiert. Unter anderem ließen Bauarbeiter eine Straßenbahnschiene in Beton ein und versperrten damit einen Schacht, erzählt Breu. "Jetzt kommt da keiner mehr rein."
Nach zwei Stunden erreicht Breu den Ausgang an der Schießstättenstraße. Es ist das Ende einer Reise durch enge Betonröhren, in denen jedes Wort widerhallt. Röhren, die stockdunkel sind und fast immer menschenleer. Ganz anders als 1944, als Licht aus Petroleumlampen die Schatten hunderter Menschen an die Wände warf während oben die Bomben fielen.
Breu erlebte beide Zeiten – und auf damals angesprochen sagt er: "Das darf nie wieder passieren." Dann öffnet er die Stahltür, legt Taschenlampe und Stiefel in den Kofferraum seines Autos, das am Straßenrand parkt. Keine Passanten sind unterwegs, kein Auto fährt vorbei. Es ist beinahe still und diese friedliche Stille, sie tut gut an einem Ort wie diesem.
Lesen Sie dazu auch unsere Multimedia-Geschichte zur Bombennacht 1944.