Er liebt den Koran, er kennt die heilige Schrift aller Muslime bestens. Aber Mouhanad Khorchide ist meilenweit davon entfernt, wie die Salafisten einem jeden Passanten den Koran mit der Empfehlung „Lies!“ in die Hand zu drücken. Um womöglich den Eindruck zu erwecken, man brauche ihn nur aufzuschlagen, weil jeder Vers und jede Sure darin für sich selbst sprächen. Nein, sagt der Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster, damit wird man dem heiligen Koran nicht gerecht.
Schon gar nicht im 21. Jahrhundert. Genau darum geht es Khorchide in seiner Forschung über Islam und Moderne – und in seiner Gastdozentur am Jakob-Fugger-Zentrum der Universität Augsburg. An zwei Vorlesungstagen legte der 1971 in Beirut im Libanon geborene Islamwissenschaftler die Grundlagen für eine zeitgemäße Koranlektüre. Jedes Mal war der große Hörsaal gut gefüllt mit Gästen jeden Alters und erkennbar verschiedener Religionen. Was einiges aussagt über das Bedürfnis, sich jenseits der Folklore intellektuell redlich mit dem „Islam im Dialog“, so der Titel der Gastdozentur, zu beschäftigen.
Seine Vorlesung beginnt Mouhanad Khorchide damit, mit „Missverständnissen“ aufzuräumen – solchen auf christlicher wie auf muslimischer Seite gleichermaßen. „Der Koran ist kein Gesetzbuch, keine Sammlung von Paragrafen“, betont er. Die Schrift ermöglicht eine Vielfalt von Auslegungen, engeren und weiteren. Saudi-Arabien verbietet den Frauen das Autofahren mit Berufung auf den Koran, Indonesien indes erlaubt es als korangemäß. Für die Demokratie wie gegen sie gebe der Koran Argumente her, meint Khorchide, der zu dem Thema 2013 das Buch „Scharia – Der missverstandene Gott“ verfasst hat.
Der Koran sei auch gar kein Buch – vielmehr Zeugnis einer Kommunikation Gottes. Erst aus Sorge, die Gewährsleute, die ihn auswendig zu rezitieren wussten, könnten sterben und verstummen, sei er aufgeschrieben worden. Ein Monolog Gottes sei der Koran gerade nicht. Und: „Der Koran ist nicht vom Himmel gefallen“, unterstreicht Khorchide. Innerhalb von 23 Jahren wurde er zwischen 610 und 632 verkündet. Mittendrin lag der Übergang von Mekka nach Medina, der Prophet Mohammed machte neue Erfahrungen mit dem Allmächtigen. „Man kann den Koran nur verstehen, wenn man ihn in seiner Entstehung sieht“, sagt der Münsteraner Islamwissenschaftler und beginnt damit, erst einmal die Suren nach ihrer zeitlichen Abfolge zu ordnen (anstatt wie im Koran nach ihrer Länge). Sure 96 war die erste, mit Sure 54 beginnt die Periode der Barmherzigkeit, mit Sure 2 die medinesische Periode.
In seiner historisch-kritischen Analyse des koranischen Offenbarungstextes folgt Khorchide seiner Berliner Kollegin Angelika Neuwirth, die seit 2007 an der Akademie der Wissenschaften das ehrgeizige Projekt „Corpus Coranicum“ leitet. Ihre literarkritische Lesart ist bei weitem noch nicht an der Basis muslimischer Moscheegemeinden angekommen, räumt Khorchide ein. Dort habe man eher Angst vor einer Entzauberung der Tradition und einer Entmachtung der religiös verbindlichen Überlieferung, wenn die heiligen Texte wissenschaftlich zerpflückt würden, weiß der Münsteraner Professor. Er selbst dagegen bleibt getrost: Im christlich-theologischen Kontext habe sich die Spannung zwischen der historisch-kritischen Leben-Jesu-Forschung und theologisch-dogmatischen Christuslehre als produktiv erwiesen.
Freilich: Das Abendland brauchte zwei Jahrhunderte, um sich die aufgeklärte Sicht auf das Christentum konfliktreich anzueignen. Khorchide, der Sohn palästinensischer Flüchtlinge, der in Riad aufwuchs, aber in Saudi-Arabien dann nicht studieren durfte (sondern in Wien), legt sich tapfer auch mit der Ankaraner Schule an. Diese türkischen islamischen Theologen interessieren sich nur für die ethische Weisung des Koran. Das Erzählerische, vor allem auch den korrektiven Umgang mit vorausliegenden jüdischen und christlichen Traditionen, blenden die Ankaraner aus. Khorchide hat keine Scheu davor, älteres Material im Koran zu identifizieren und die Verschiebungen und Neubewertungen zu analysieren. Etwa dass Adam und Eva von Anfang an als Statthalter Allahs auf Erden vorgesehen waren und nicht in eine außerparadiesische Existenz verjagt wurden.