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Schicksal: Das Sterben zulassen

Schicksal

Das Sterben zulassen

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    Tilman Becker
    Tilman Becker

    Wie lange und mit welchen Mitteln sollte ein Leben erhalten oder verlängert werden? Soll die gebrechliche Mutter mit einer Sonde künstlich ernährt werden? Und wie viele Wochen oder Monate soll der Sohn beatmet werden, der mit 28 ein Hirnaneurysma erleidet, auf dem Fußballfeld zusammenbricht und ins Koma fällt?

    Die heutige Medizin kann viel. Schicksalsschläge, Krankheiten, Unfälle oder schlicht das Alter eines geliebten Menschen stellen die Angehörigen somit vor erdrückende Entscheidungen. Sie müssen nicht nur die Trauer, Verzweiflung und Angst vor dem drohenden Verlust verarbeiten, sondern sie stehen zusätzlich vor einem nicht lösbaren Dilemma: Wie sollen sie entscheiden? Eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht helfen.

    Was viele Menschen nicht wissen: In Krankenhäusern können Angehörige um eine sogenannte ethische Fallbesprechung bitten. Zu einem solchen Teamgespräch werden alle Mitarbeiter eingeladen, die mit dem betroffenen Patienten arbeiten, also beispielsweise Physiotherapeuten, Pfleger, Krankenschwestern, Ergotherapeuten, Neurologen und behandelnde Ärzte. Die Angehörigen sind in der Regel nicht dabei, sie liefern aber im Vorfeld wichtige Informationen über Wünsche und Vorstellungen des Patienten.

    „Am Anfang einer ethischen Fallbesprechung steht immer ein Dilemma, für das es keine richtige oder falsche Lösung gibt. Nach sorgfältiger Anhörung des gesamten Teams und Abwägung aller Aspekte wird für die Angehörigen eine Empfehlung ausgesprochen“, erklärt Dr. Gerhard Kellner. Der Psychologe und Krankenhausseelsorger leitet das Haus Tobias in Augsburg, wo 2009 das Augsburger Forum für Ethik in der Medizin (AFEM) gegründet wurde.

    Seitdem finden hier Seminare zur ethischen Entscheidungsfindung statt und Seelsorger, Mediziner und andere Fachleute werden zu Ethikmoderatoren ausgebildet. Sie arbeiten nach einer Methode, die Dr. Rupert M. Scheule an der Theologischen Fakultät der Universität Augsburg entwickelte, die sogenannte „Multidisziplinäre ethische Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungs-Situationen“, kurz MEFES.

    Das ist ein strukturiertes Team-Gespräch unter Profis, bei dem die Anwesenden eine Perspektive für die zu erwartende restliche Lebenszeit entwickeln. „Es geht darum, den natürlichen Verlauf, den das Sterben nehmen würde, zuzulassen und den Sterbeprozess nicht künstlich zu verlängern“, erklärt Dr. Gerhard Kellner. „Die Schwierigkeit besteht nun darin, zu erkennen, was genau ist in diesem speziellen Fall der natürliche Verlauf?“, ergänzt der Neurologe Dr. Tilman Becker, der zusammen mit Dr. Gerhard Kellner, dem evangelischen Pfarrer Jürgen Floß und Dr. Rupert M. Scheule die Methode MEFES jahrelang im Schlaganfallzentrum der Neurologischen Klinik am Klinikum Augsburg erprobt und weiterentwickelt hat. Bisher wurden rund 150 Ethikmoderatoren im Haus Tobias ausgebildet.

    „Für mich als Neurologe ist eine solche Fallbesprechung eine unglaubliche Bereicherung. Denn jeder professionelle Blickwinkel hat einen blinden Fleck, und bei der Fallbesprechung erhalte ich ergänzende Informationen über die Patienten, die beispielsweise nur ein Pfleger oder eine Krankenschwester im alltäglichen Umgang erfährt“, berichtet Dr. Tilman Becker.

    „Um eine ethische Fallbesprechung wird am häufigsten am Lebensende gebeten, aber auch am Lebensanfang oder in der Blüte des Lebens kann dies eine zentrale Frage sein“, erzählt Dr. Gerhard Kellner. So wie in dem Fall des 28-jährigen Fußballers oder eines langersehnten Babys, das nur mithilfe von Geräten am Leben erhalten werden konnte. Wie qualvoll und schmerzhaft die Situation für Eltern ist, ist kaum nachvollziehbar.

    Die Empfehlung der Ethikmoderatoren kann den Menschen den Schmerz und die Trauer nicht nehmen, aber sie kann zusätzliche Informationen liefern, das Gefühl der Ohnmacht lindern und die Angst vor einer irreversiblen Entscheidung verringern.

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