Heute vor 75 Jahren, am frühen Morgen des 28. April 1945, wurden Augsburgs Stadtkommandant Generalmajor Franz Fehn und sein Stab im Befehlsbunker unter dem Riedingerhaus (heute: Stadtwerke-haus) am Hohen Weg von Amerikanern gefangen genommen. Er hatte eine formelle, kampflose Übergabe der Stadt Augsburg abgelehnt.
Organisiert wurde der Überraschungscoup von einer konspirativ tätigen Gruppe Augsburger. Das Ziel, das Menschen aus unterschiedlichen Kreisen verband, war ein Kriegsende ohne Schrecken für Augsburg. Die Stadt sollte ohne Kämpfe, ohne Zerstörungen und ohne Opfer, mit intakten Brücken und Versorgungseinrichtungen in die Hände der Amerikaner gelangen. Ein Weiterleben in Augsburg sollte nach der Stunde Null in der bisherigen Weise gesichert sein. Zu diesem Zweck schlossen sie sich zu einer „Freiheitsbewegung“ zusammen.
Zu der Gruppe, die in der entscheidenden Nacht vom 27. auf den 28. April 1945 aktiv war, zählte Franz Hesse. Er übernahm am 27. April den Auftrag, mit den bereits bei Steppach liegenden Amerikanern Verbindung aufzunehmen. Der Kontakt kam zustande. Die innerhalb der „Freiheitsbewegung“ abgesprochenen Abläufe, wie amerikanische Verbände ohne Kampfhandlungen Augsburg besetzen könnten, wurden teilweise durch unterbrochene Nachrichtenverbindungen über den Haufen geworfen.
Amerikaner nehmen Augsburg kampflos ein
Doch amerikanische Offiziere fassten Vertrauen zu den Augsburger „Unterhändlern“ und setzten in den ersten Stunden des 28. April eine Kompanie mit Jeeps, gepanzerten Mannschaftswagen und Panzern in Richtung Augsburg-Stadtmitte in Marsch. Franz Hesse und etliche weitere Männer dirigierten die Kolonne über Kriegshaber, Pfersee, die Wertachbrücke, die Rosenaustraße und die Eisenbahnbrücke am Beginn der Gögginger Straße mitten in die Stadt.
Mit den Amerikanern besetzten Männer der „Freiheitsbewegung“ den Befehlsbunker unter den Trümmern des Riedingerhauses. Als die Gefangenen den Bunker verließen, traf dort ein Vorauskommando der Amerikaner mit zwei Jeeps ein. Sie kamen aus Oberhausen. Im ersten Fahrzeug saß mit weißer Fahne der 20-jährige Augsburger Hubert Rauch als Wegweiser. Da er Englisch sprach, hatte Hubert Rauch im Auftrag der konspirativen Gruppe die Kontaktaufnahme in Oberhausen übernommen.
Mutige Augsburger sprechen mit US-Army
Der Versuch misslang fast: Er wurde festgenommen. Hubert Rauch ließ bei seinem Bewacher nicht locker und erreichte, dass er gegen 5 Uhr zu einem amerikanischen Kommandostab in einem Haus nahe der Martinskirche gebracht wurde. Er konnte dort glaubhaft machen, dass er beauftragt war, die Amerikaner zur kampflosen Übergabe der Stadt zum Befehlsbunker zu führen. Er hatte ein kurzes Schreiben auf Englisch dabei, das ihn legitimierte. In zwei Jeeps fuhr das Erkundungskommando vom Eschenhof über die Wertachbrücke, die Liebigstraße und die Frauentorstraße zum Dom. Auf dem Hohen Weg wurden die Amerikaner von Männern der „Freiheitsbewegung“ erwartet. Sie sahen, dass bereits Armeefahrzeuge dort standen.
Nachdem sicher war, dass es in Augsburg keinen Widerstand mehr gab, machte sich das in Oberhausen befindliche Bataillon mit Panzern auf den Weg ins Stadtzentrum. Als Einweiser fungierte der ebenfalls von der „Freiheitsbewegung“ entsandte Hermann Mannsfeld. Er dirigierte die Truppe über die Dieselbrücke und die Frauentorstraße zur deutschen Befehlszentrale. Es war gegen 7.30 Uhr, als die Amerikaner den Dom erreichten.
Dort wurden sie von der 22-jährigen Leni Scherer fotografiert. Es entstanden an diesem für Augsburg so bedeutsamen Morgen des 28. April 1945 einzigartige Fotos: Auf regennassem Asphalt und Pflaster bewegen sich ein amerikanischer Panzer und zahlreiche Soldaten zu Fuß am Ostchor des Doms vorbei in Richtung Rathaus. Am Bischofspalais und benachbarten Häusern hängen weiße Fahnen. Die meisten Soldaten tragen die Waffen geschultert, nicht schussbereit.
Kindergärtnerin erlebt Einmarsch am Dom
Alles sei irgendwie in ruhiger Atmosphäre abgelaufen, erinnerte sich Leni Lechner, die damals noch Scherer hieß. Sie machte einen Tag vor ihrem 23. Geburtstag die frühesten erhaltenen Aufnahmen von Amerikanern in Augsburg. Diese Fotos dokumentieren das Ende des Zweiten Weltkrieges für Augsburg. Leni Scherer hatte die Nacht mit ihren Eltern nicht im Wohnhaus im Spickel, sondern im Laden im Haus Frauentorstraße 2 verbracht.
Dort betrieben ihre Eltern Leonhard und Elisabeth Scherer im Parterre ein Geschäft für Wein, Süßwaren und Obst. Da die Keller unter dem Haus beim Dom sicherer schienen als jene im Wohnhaus Hornungstraße 12 im Spickel, hatte die Familie entschieden, die letzte Kriegsnacht im Geschäft in Domnähe zu verbringen. „Wir wussten ja nicht, ob noch geschossen würde.“ Von weit draußen im Westen war am 27. April Geschützdonner zu hören gewesen. Es bestand die Sorge, es könnte in der Stadt zu Kämpfen kommen.
Panzer in den Augsburger Straßen
Das aufgezeichnete Gespräch mit der Zeitzeugin Leni Lechner, geborene Scherer, fand am 2. April 2005 kurz vor ihrem 83. Geburtstag statt. Die Abläufe in dieser denkwürdigen Nacht waren ihr nach 60 Jahren noch detailliert in Erinnerung. „Wir mussten nicht in den Keller, aber wir konnten auch nicht schlafen, obwohl uns die Leute vom ersten Stock Betten angeboten hatten.“ Vom Laden aus hatten sie durch das Schaufenster die Straße, den Ostchor des Doms und das Bischofshaus im Blick.
Die „Freiheitsbewegung“ hatte in der letzten Kriegsnacht ihre geheime Zentrale bei den Franziskanerinnen im Kloster St. Elisabeth am Inneren Pfaffengäßchen eingerichtet. „Auf der Straße spielte sich viel ab. Der Befehlsbunker war ja im Riedingerhaus und da eilten oft Leute hin und her. Die hatten es enorm wichtig. Da waren etliche Bekannte darunter, Dr. Hörmann und andere Geistliche. Die wissen ja, was los ist, dachten wir.“ Leni Scherer und ihre Eltern ahnten nur, was da im Gange war. Beim Hellwerden entdeckten sie an einem Haus in der Domkurve die erste weiße Fahne. „Da fühlten wir uns befreit und erleichtert. Das ist ein gutes Zeichen, sagte mein Vater.“ So ist es ihr in Erinnerung geblieben.
Die beiden Jeeps des Vorauskommandos der Amerikaner hatte Leni Scherer nicht wahrgenommen. Als jedoch Panzerketten rasselten, war sie am Schaufenster. Warum der mit einem Film geladene Fotoapparat der Familie griffbereit lag und warum sie ihn spontan zur Hand nahm, daran konnte sich die gelernte Kindergärtnerin nicht mehr erinnern.
Leni Scherer trat mit dem Fotoapparat in der Hand vor die Ladentüre und drückte ab. Sie drehte den Film weiter und betätigte abermals den Auslöser. Sie machte ein drittes Foto. Die 22-Jährige dokumentierte den Einmarsch der Amerikaner. Auf dem ersten Foto mit dem Panzer in Höhe des Domchors wenden ihr alle Soldaten den Rücken zu. Sie war offenbar noch unentdeckt. Bei einem weiteren Foto bemerkte sie jedoch ein GI und schaute zu ihr herüber. Bei der dritten Aufnahme blickten drei ihr entgegenkommende schwer bewaffnete „Feinde“ direkt in die Kamera. Leni Scherer fühlte in diesem Moment keine Angst vor ihnen, doch etwas hat sie noch vor Augen: „Einer der Soldaten trug einen Geigenkasten unter dem Arm. Wo hat er den wohl mitgehen lassen, dachte ich mir.“
Vater erschrickt, als er den Fotoapparat sieht
Die nur 60 mal 90 Millimeter großen Originalabzüge von den ersten beiden Aufnahmen sind erhalten. Leni Lechner schüttelt darüber lächelnd den Kopf. „Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Anscheinend war es das spontane Bedürfnis, dieses lang erwartete Ereignis festzuhalten.“ Über etwaige Konsequenzen habe sie nicht nachgedacht. Als der Vater seine Tochter mit dem Fotoapparat vor dem Haus stehend sah, sei er gewaltig erschrocken: „Spinnst du, das ist doch der Feind. Die können dich niederschießen!“ Er fasste sie am Arm und zog sie schnell in den Laden.
Wie verlief dieser 28. April 1945 für Leni Scherer und ihre Eltern weiter? „In der Stadt blieb alles ruhig. Da sind wir am Vormittag mit einem Gefühl von Dankbarkeit mit den Fahrrädern heim in den Spickel gefahren. Der Vater hängte sofort eine weiße Fahne aus unserem Haus in der Hornungstraße. Da regte sich ein Nachbar furchtbar auf. Was fällt euch ein?“ Der Vater rief ihm zu: „Der Krieg ist aus. Die Amerikaner sind in der Stadt!“ Ungläubig verschwand der Nachbar, doch wenig später hing auch an seinem Haus ein weißes Betttuch aus einem Fenster. Dass an der Hochzoller Lechbrücke oder weiter weg bei Friedberg und Mering an diesem Tag geschossen worden sei, davon hörte sie erst später. Leni Lechner denkt nach, ehe sie sagt: „Für mich ist der 28. April 1945 irgendwie ruhig verlaufen.“ Am späten Nachmittag radelte die Familie wieder in die Stadt. Sie ging vom Geschäft beim Dom hinüber zum Kloster St. Elisabeth, wo Leni das Lyzeum und die Nähschule besucht hatte. Domkaplan Johann Aichele hielt dort gegen Abend im Turnsaal einen Dankgottesdienst. Damit klang der erste Tag im Nachkriegs-Augsburg für die Familie Scherer aus.
Wie der Krieg in Augsburg endete
„Die harte Zeit ist erst noch gekommen“, fügt die Zeitzeugin bei dem Gespräch wenige Wochen vor ihrem 83. Geburtstag an. Sie sei in den Jahren 1945 und 1946 des Öfteren mit dem Fahrrad zur Verwandtschaft aufs Land gefahren. Sie habe dort genäht und als Lohn Hühner, Gockel, Honig, Eier, Brot und Rahm nach Augsburg gebracht.
Ein Geigenkasten sei ihr bevorzugtes Beförderungsbehältnis für Viktualien gewesen. „Er fasste 54 Eier und war dann ganz schön schwer“, erinnert sie sich schmunzelnd an die trickreichen Versorgungsfahrten. Im Sommer 1945 habe sie bei der Rückfahrt vom Besuch einer Tante in Markt bei Biberbach mit ihrem Fahrrad etliche Pfund Butter befördert. In Gersthofen kontrollierten Amerikaner. Leni Scherer sprach Englisch. Den Soldaten erzählte sie, sie habe heute Geburtstag. Sie durfte samt Hamsterware passieren.
1946 heirateten Leni Scherer und der damals als Torjäger beim Oberligisten TSV Schwaben sehr populäre Augsburger Fußballspieler Georg („Schorsch“) Lechner. Als Witwe starb Leni Lechner, die in der Berichterstattung über das Kriegsende nie selbst im Bild auftauchen wollte, im Alter von 92 Jahren am 16. Februar 2015.
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